Batterie-Lkw Mercedes eActros 600: Elektrischer Schwerlaster

Mercedes E-Actros 600
Dieser Elektro-Lkw soll die Dieseldominanz brechen

Mercedes-Benz Trucks enthüllt die Serienversion seines ersten batterieelektrischen Fernverkehrs-Lkw stilgerecht auf einer Raststätte bei Hamburg. Nicht nur, weil Raststätten das Zuhause für große Trucks und mit zahlreichen Schnellladern ausgerüstet sind. Nein, Mercedes will vor allem die Autobahnnähe des neuen eActros 600 demonstrieren. Er wurde für die lange Strecke entwickelt und soll die Betonpisten Europas während der Mobilitätswende flüsterleise im Sturm erobern.

Neues Design für 44 Tonnen

Optisch ist der neue E-Lkw voll auf Aerodynamik getrimmt. Mit einer ungewohnt glatten, sanft gerundeten, cremeweißen Kabine wirkt er auf den ersten Moment wie eine puristische Designervitrine mit einem ziemlich großen Stern darauf. Viel Verkleidung und wenig Kühlung erzählen vom ersten Anblick an eine Geschichte von einem neuen Antriebseffizienz-Kapitel. Rückfahrkameras und Spiegel sind für Lkw-Verhältnisse winzig. Ansonsten gleichen die Proportionen denen herkömmlicher Actros-Modelle bei einem Radstand von rund vier Metern.

Direkt unter der Kabine tanzen keine sechs Zylinder mehr im Takt der Selbstzündung, sondern hier laufen nur noch Nebenaggregate und Steuerungskomponenten. Die beiden auf 800 Volt ausgelegten Permanentmagnet-Synchron-Elektromotoren arbeiten mit bis zu 600 kW (816 PS) Spitzenleistung direkt in der hinteren Achse der Zugmaschine. Die Dauerleistung dieses Actros liegt bei 400 kW (544 PS). Das Fahrzeug ist auf ein kombiniertes Gesamtzuggewicht von 42 Tonnen zugelassen – zwei Tonnen mehr als bei einem Diesel-LKW. Im Ausnahmefall des kombinierten Verkehrs, das heißt, der überwiegende Transport findet per Zug oder Schiff statt, sind 44 Tonnen erlaubt. Mit einem Standardauflieger hat der eActros 600 in der EU eine Nutzlast von etwa 22 Tonnen. In einigen Fällen kann nationales Recht eine höhere Nutzlast zulassen.

Batterien mit chinesischer Vorreiter-Technik

600 kWh sind für sich gesehen noch kein Sensationswert. Volvo bietet bei seinem FH electric schon jetzt bis zu 540 kWh und die Varianten von Designwerk mit 1000 kWh (864 kWh nutzbar) und der Tesla Semi mit wohl 850 kWh legen noch mächtig was drauf. Das Besondere liegt tief im Inneren der drei jeweils brutto 207 kWh großen Akkupakete: Nagelneue Lithium-Eisenphosphatzellen (LFP) des chinesischen Herstellers CATL, die eine Reihe großer Vorteile versprechen. CATL hat seine neue LFP-Zellgeneration erst kürzlich vorgestellt und laut den technischen Daten lassen diese, bis auf die Energiedichte, die meisten klassischen Lithium-Ionen-Zellen mit Nickel, Mangan und Cobalt (NMC) alt aussehen. Dabei wiegt ein Akkupaket rund 1,5 Tonnen. Zusammen bringen es die Batterien allein also auf 4,5 Tonnen.

Der wichtigste Punkt bei einem Lkw ist dabei die Dauerhaltbarkeit. Über die 200.000 km bei einem Elektroauto lächelt ein Fuhrunternehmer nur müde. Bei den Trucks muss die Energieeinheit siebenstellige Werte erreichen, oder – wie Mercedes verspricht – exakt 1,2 Millionen Kilometer in zehn Betriebsjahren mit einem Rest-Energieinhalt – wichtigster Wert für die Akku-Gesundheit – von mindestens 80 Prozent. Das entspricht auf die rund 500 km Reichweite des eActros gewaltigen 2400 vollständigen Lade-Entladezyklen und damit über viermal mehr als bisher im E-Auto.

95 Prozent der Gesamtkapazität genutzt

Aus Haltbarkeitsgründen wurde bei vielen E-Lkw bisher ein großer Puffer zwischen die theoretische und die nutzbare Akku-Kapazität gelegt. Der Mercedes-Stromer nutzt dagegen die in langen Ladestands-Bereichen besonders flache Spannungskurve der LFP-Zellen aus und holt über 95 Prozent aus der Elektrochemie. Jedoch waren die LFP-Zellen bisher als Schneckenlader berüchtigt, die keine sehr hohen Ströme vertragen. Laut CATL sollen die neuen Zellen extremes Highspeed-Charging vertragen. Einen wichtigen Wert stellt hierbei die Relation zwischen maximaler Ladeleistung und dem Energieinhalt des Akkus dar.

Absolute Spitzenlader im Elektroautobereich, wie ein Porsche Taycan, erreichen hier Faktor 3. Die neuen CATL-Zellen sollen sogar Faktor 4 ermöglichen. Doch solche Schnellladevorgänge gehen zulasten der Akku-Gesundheit. Deshalb sind diese Werte beim eActros erstmal konservativer unter 2 ausgelegt. Der Nachteil der LFP-Zellen ist ihr etwas höheres Gewicht pro Wh Energieinhalt. Hier wirkt sich ihre niedrigere Nennspannung im Vergleich zu klassischen Lithium-Ionen-Zellen negativ aus. Dafür sind sie deutlich Kälte-unempfindlicher und gelten als sicherer, wenn es um die Gefahr des thermischen Durchbrennens (thermal runway) geht.

Bis zu 1.000 kW – in 30 Minuten auf 80 Prozent SOC

Der 600er kann entweder klassisch über das CCS-Ladenetzwerk mit den Spitzenwerten der jeweiligen Säulen laden oder in Zukunft mit dem sogenannten Megawatt-Charging-System (MCS), das aber erst noch aufgebaut werden muss. Was übrigens eine Mammutaufgabe wird, da es hier nicht nur um gewaltige Strommengen, sondern um das viel zu knappe Parkplatzangebot an Rastplätzen geht – doch das ist ein anderes, sehr schwieriges Thema. Fakt ist: Die große MCS-Buchse am Actros gibt erstmal eher einen Dummy, dessen große Gleichstrombuchse darauf wartet, irgendwann mal Spannung zu spüren.

Dann soll sich der Akku mit in der Spitze einem Megawatt-Ladeleistung in 30 Min. von 20 auf 80 Prozent füllen, was einer durchschnittlichen Ladeleistung von 720 kW entspräche. Das sind Leistungsdimensionen mit denen auch Tesla derzeit seinen Semi an speziellen 750-kW-Superchargern befüllt. Die Ladezeit entscheidet über den Erfolg der Elektro-Trucks im Fernverkehr.

Bis das Megacharging verfügbar ist, beträgt die Ladeleistung bis zu 400 kW. In Zeiteinheiten für den Ladevorgang bedeutete das: In rund einer Stunde ist der Akku unter Idealbedingungen von 20 auf 80 Prozent geladen. Das überschreitet die gesetzlich vorgeschriebenen Pausenzeit von 45 Minuten nach 4,5 Stunden Fahrt etwas. "Das war ein wichtiges Kriterium für uns. Denn damit liegen wir genau in den Fenstern der Lenkzeitgesetzgebung", erklärt Wolf. So könne ein Fahrer vier Stunden fahren, dann seine Lenkpause mit der Ladepause verbinden und anschließend noch einmal vier Stunden fahren. "Das ist genug für eine Tagestour von Stuttgart nach Hamburg", erklärt er.

In Zukunft soll MCS sogar 3,7 Megawatt in der Spitze liefern. Doch die viel wichtigere Zukunftsaufgabe liegt erst mal darin, die ersten öffentlichen Ladestationen dieser Art aufzustellen. Der finale Standard soll 2024 verabschiedet werden. Eine Wechselstrom-Ladeeinheit hat Mercedes gar nicht erst vorgesehen. An 22 kW würde der Ladevorgang fast 1,5 Tage dauern.

Verbrauch eActros: 120 kWh pro 100 Kilometer

Die offizielle Reichweite des 600er liegt bei 500 Kilometern, was einen Verbrauch von 120 kWh/100 km ergibt. Die sparsamsten Diesel-Lkw erreichen voll beladen derzeit 25 l/100 km, das ist äquivalent zu einem Energieinhalt von ungefähr 245 kWh. Bei einer ersten Verbrauchsfahrt von Stuttgart nach Bozen in Südtirol mit 40 Tonnen Gesamtlast erreichte der eActros sogar 530 Kilometer, was nur 113 kWh/100 km entspricht. Das sind im Vergleich zu Teslas Semi erstklassige Effizienzwerte.

Was der Akku an zusätzlichem Gewicht draufpackt, kann an anderer Stelle eingespart werden. Nicht nur die Motoren wiegen weniger, das direkt angeflanschte Getriebe fällt mit vier Gängen selbst für übliche Verbrenner-Auto-Dimensionen possierlich aus. Wie im Elektrobereich üblich, erlaubt der eActros One-Pedal-Driving und eine mächtige Bremsenergie-Rekuperation in fünf Stufen. Im Gegensatz zum klassischen Retarder – der arbeitet im Prinzip wie eine Hydraulikkupplung als verschleißfreie Dauerbremse beim Bergabfahren – wird die Bremsenergie also zu einem großen Teil wieder gespeichert. Und bei bis zu 42 Tonnen ergibt sich viel kinetische Energie zum Speichern. Gewicht ist bei einem Lkw ein mehrdimensionales Thema: Es geht nicht nur um die maximale Nutzlast, sondern den gewichtsabhängigen Rollwiderstand, der immer noch den höchsten Fahrwiderstandsanteil am Energieverbrauch darstellt.

Der zweithöchste Fahrwiderstand bei Autobahnfahrt ist der Luftwiderstand. Hier hat Mercedes mit der abgerundeten Fronthaube, neuen Frontspoilern, Luftleitblechen und dem Wegfall der klassischen Außenspiegel viel Feinarbeit geleistet. Jedoch lässt sich zum einen an der grundsätzlich gewaltigen Stirnfläche der bis zu 4 m hohen Trucks nur wenig ändern. Zum anderen spielt der Heckabschluss des Trailers ebenfalls eine gewaltige Rolle. Da geht es um Kompromisse zwischen einem sanfter auslaufenden und damit die Luft besser führenden Heck und Praktikabilität.

Erste Sitzprobe im neuen Cockpit

Viel ist auf den ersten Blick beim Actros nicht geblieben, wie es war. Neuer Radstand, neues Cockpit, neue Front, anderer Antrieb – und trotzdem sollen der E-Actros 600 und seine Diesel-Brüder vom selben Band in Wörth laufen können. "Das ist ein wichtiger Teil der Strategie", sagt Tilmann Morlok, Projektleiter des Long Haul. "Denn wir werden keinen Wechsel auf E-Nutzfahrzeuge von heute auf morgen sehen", ist er sich sicher. Dass dieser kommt, ist man sich bei Daimler Trucks sicher und will deshalb vorbereitet sein. Ab 2030 erwarten die Truckies einen Elektroanteil von 60 Prozent. Dann sollen über den gesamten Konzern hinweg, also alle Marken inklusive Fuso, Freightliner und Co. elektrifiziert sein – und eben auch der Langstrecken-Lkw Actros.

Daimler Truck Mercedes eActros 600 Weltpremiere
Mercedes

Wer in das Cockpit des eActros einsteigt, erlebt eine neue Lkw-Bildschirmwelt: Deutlich weniger Knöpfe, aber erheblich mehr Displays des serienmäßig verbauten Multimedia Cockpit Interactive 2 sollen das Fahrerleben angenehmer und besser informiert machen. Erheblich moderner und etwas geräumiger wirkt es auf den ersten Blick schon mal.

Varianten: Auch Kipplaster gibt es elektrisch

Den eActros wird es als Sattelzugmaschine und als Pritschenfahrgestell geben. Egal in welcher Variante: Es wird ein mächtiger, aber bei langsamer Fahrt leiser Hingucker auf der Straße werden. Mercedes peilt mit dem 600er nicht nur die klassische Güterlogistik an. Auch die Bauwirtschaft soll von ihm profitieren. Auf der Baumesse Bauma stellt der Hersteller deshalb einen Kipplaster vor. Für Daimler sei das Bausegment besonders wichtig. Etwa 20 Prozent der Mercedes Lkw würden für die Baustelle produziert. Dafür musste eigens eine neue Schnittstelle entwickelt werden, die es ermöglicht, unterschiedliche Auflieger anzubinden. Ein sogenannter Nebenantrieb sorgt dafür, dass hydraulische Arbeitsausrüstungen rund um Baustellen-Einsätze wie Kippsattel- oder Schubbodenauflieger betrieben werden können.

Daimler E-Actros Long Haul Meiller Kipplaster
Daimler Trucks

Der Prototyp dieses Nebenantriebs wurde mit dem Kipper-Hersteller Meiller entwickelt. Er hat 58 kW Dauerleistung und kommt auf 300 Nm Drehmoment. Zum Serienstart soll die Leistung noch deutlich steigen. Den Strom soll das Nebenaggregat aber auch dann über einen Inverter bekommen, der hinter dem Führerhaus untergebracht und ins Hochvoltnetz des Fahrzeugs eingebunden ist. So kann er den Gleichstrom der LFP-Batterie in Wechselstrom umwandeln, mit dem dann beispielsweise die Pumpe für eine Hydraulik des Aufliegers versorgt werden kann.

Dafür wird das Getriebe mehr als die zwei Gänge haben, die aktuell die kleinen eActros 300 und eActros 400 mitbringen. Hier ist bei den Mercedes-Technikern von mindestens drei Gängen die Rede. Gerade bei voller Ladung an Steigungen sei man so im Vorteil. Sowohl bergauf beim Anfahren als auch bergab beim Rekuperieren. Trotz der starken E-Maschinen, die auch als Generator die Akkus aufladen können, darf der eActros 600, wie auch alle anderen Lkw, nicht auf die Dauerbremse – den sogenannten Retarder – verzichten. "Die Technik ist gesetzlich vorgeschrieben, sodass sie auch beim E-Lkw zum Pflichtprogramm gehört", erklärt Dr. Dalibor Dudic, Leiter der Zero Emission Projekte bei Mercedes-Benz Trucks.

Kosten: Teurer in der Anschaffung, aber günstiger auf Dauer

Die vielleicht wichtigste Frage für den kostenaffinen Logistiksektor: der Preis. Hier schweigt sich Mercedes-Benz Trucks bislang noch aus. In jedem Fall wird der Anschaffungspreis für den eActros aber deutlich über dem des Diesels liegen. Für die Kunden soll das kein Nachteil sein. In der Gesamtkostenbetrachtung, also den sogenannten Total Cost of Ownership (TCO), in denen auch Verschleiß, Verbrauch, Versicherung und alle anderen Kosten einbezogen werden, die für den Betrieb eines Fahrzeugs aufgewendet werden müssen, soll der eActros seinen Verbrenner-Bruder in die Tasche stecken.

"Je nachdem wo der eActros eingesetzt wird, wird seine Kostenbilanz sehr schnell positiv", ist sich Wolf sicher. "Spätestens beim Serienstart 2024 wird der TCO vergleichbar oder besser sein, als beim Diesel." Gerade die Themen Kraftstoff- oder Mautkosten seien hier von Bedeutung und könnten den teureren Anschaffungspreis schnell aufwiegen. Denn Länder wie Frankreich oder die Schweiz würden die E-Antriebe hier stark begünstigen.

Serienproduktion ab 2024

Der eActros 600 soll für Kunden im Vergleich zum konventionellen Diesel-Actros der wirtschaftlichste Fernverkehrs-Lkw von Mercedes-Benz Trucks werden. Der Verkaufstart hat bereits begonnen. Die Serienreife des E-Lkw ist für 2024 geplant. Nach diversen Tests von Prototypen auf öffentlichen Straßen startet nun die Kundenerprobung mit einer Flotte von rund fünfzig Prototyp-Fahrzeugen.

"Der eActros 600 aus Wörther Produktion kann die Mehrheit der Diesel-Lkw im wichtigen Fernverkehrs-Segment ablösen, denn er setzt für unsere Kunden in Sachen Wirtschaftlichkeit neue Maßstäbe. Zudem bietet er enorme Potenziale zur Reduktion von CO₂-Emissionen. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Lkw den neuen Standard im Straßengüterverkehr definieren wird", gibt sich Karin Rådström, CEO Mercedes-Benz Trucks, zuversichtlich.

Ladestationen: 500 Millionen Euro Jointventure mit Traton und Volvo

Beim öffentlichen Laden für den Fernverkehr haben Mercedes-Benz Trucks, die Traton-Gruppe des VW-Konzerns und die Volvo Group bereits ein Joint Venture gegründet. Das sieht den Aufbau und Betrieb eines öffentlichen Hochleistungs-Ladenetzes für batterieelektrische schwere Fernverkehrs-Lkw und Reisebusse in Europa vor. Insgesamt sollen in den Ausbau der Lkw-Ladeinfrastruktur in Europa rund 500 Millionen Euro investiert werden.