So sollte das ganze Leben sein: Applaus jeden Tag, fröhliches Händeschütteln, Lautsprecherdurchsagen mit deinem Namen, Blitzlichtgewitter – und immer geht es steil nach oben. In diesem Fall sind es die Startrampen der Mille Miglia. Nach ein paar Augenblicken müssen wir die Bühne wieder freigeben für den Nächsten. Aber es sind unvergessliche Augenblicke. Man möchte sie in eine dieser Schneekugeln für Touristen packen und immer wieder aufschütteln, um sich präzise zu erinnern.
Mille Miglia 2010 - Und der Alltag hat Pause
Michael Bock, der Chef von Mercedes-Benz Classic, gab für seine Teams übrigens die gut gemeinte Losung aus: "Meine Damen, meine Herren, das hier ist kein Rennen. Das hier ist ein Spaß und ein Genuss. Jetzt hat der Alltag mal ein paar Tage Pause." Als ein Teambetreuer dringend den Rat gibt, mindestens zwei Liter Wasser auf der langen Etappe heute zu trinken, meldet sich 300 SL-Fahrer Jackie Stewart umgehend zu Wort: "Sir, zwei Liter Wasser? Ist in meinem Mercedes denn eine Toilette?"
Schluss mit den Kalauern, die Sache hier ist zu ernst, sie fordert Konzentration. Kaum zweieinhalb Tage für die 1.000 Meilen – und dann noch ständig diese Wertungsprüfungen. Gleich bei der ersten dieses harten Freitags geht für uns einiges – um nicht zu sagen: alles – schief. Beifahrer Markus, von Beruf immerhin Finanzbeamter im Finanzamt Nürnberg-Zentral und somit ein Mann der Zahlen, verrechnet sich komplett. Als wir nach einer Minute 30 Sekunden über den Zielschlauch für die Zeitmessung fahren wollen, ist der noch eine Minute entfernt – ein Fiasko. Es setzt sich bei der letzten Wertungspüfung fort, die in der Nähe von Terminillo auf nebelverhangenen Passstraßen stattfindet, hier reicht die Sicht nur zehn Meter weit. Folge: Ein kleiner Wegweiser an Abzweigungen ist kaum zu sehen – und wir verfahren uns tatsächlich auf dem Kilometer zwischen Startschlauch zu Zielschlauch. Aus meiner Sicht ist der Finanzbeamte schuld; er will diese Einschätzung nicht zu 100 Prozent teilen.
Ex-Minister Joschka Fischer bei der Mille Miglia am Start
Immerhin kommt Trost und Anerkennung von einem ehemaligen Bundesaußenminister: BMW-Berater Joschka Fischer, der ebenfalls seine erste Mille fährt und in einem weißen Rennoverall die Szene beäugt. Als er unseren Mercedes sieht, sagt er voller Rührung: "Mit so einem sind wir früher zu Sechst auf die Demo gefahren. Das waren noch Zeiten!"
Unser Auto ist der Mercedes-Benz 220a. Eines der jüngsten Modelle im Feld, und weit von der rennsportlichen Radikalität etwa eines SSK entfernt – um es vorsichtig auszudrücken. Aber er ist von sehr angenehmem Wesen. Beifahrer Markus und ich spüren: Das ist der Beginn einer tiefen Freundschaft mit dem Ponton-Benz. Was die Fachliteratur so von ihm erzählt? Beispielsweise, dass Mercedes relativ spät den Schritt von der Rahmenkonstruktion zur selbsttragenden Karosserie unternahm: ab Juli 1953. Zunächst ging nur der Ponton 180 mit einem Vierzylindermotor in Produktion. Der Ponton 220 wurde im März 1954 in Sindelfingen vorgestellt.
Der Mercedes-Benz 220a wird zu Ponton-Paolo
Für alle Ponton-Mercedes gilt: Keiner von ihnen wird jemals aus dem Gedächtnis der Autofans verschwinden – dafür sorgen auch Auftritte wie auf der Mille Miglia. 1.250 Mark kostete die 85 PS starke Limousine einst, die bei Vollgas und 150 km/h rund 18 Liter auf 100 Kilometer verbraucht. Als Sonderausstattung gab es ein Schiebedach für 600 Mark, ein Heizgebläse für 40 Mark und das Autosuper-Radio Becker Mexico für 630 Mark. Die Scheibenwaschanlage – so etwas wurde damals schon angeboten – schlug mit 55 D-Mark zu Buche; eine lohnende Investition. Der frühere Besitzer unseres Mille-Autos, ein Mercedes-Manager, hat eine Fanfare einbauen lassen, deren Hupen wie ein Jodeln klingt. Bei jeder Ortsdurchfahrt fordern die Autofans diesen Fanfarenklang.
Sei’s drum. Wir brauchen einen Namen für unseren Ponton, der gerade versucht, mit einem Jaguar Schritt zu halten. Wie wär’s mit Paul? Ponton-Paul, das passt. Nein: Bei der Mille muss es Paolo heißen. Ponton-Paolo ist mehr ein Typ fürs große Ganze. Das Kleinteilige liegt ihm nicht so, beispielsweise die hundertstel Sekunden. Mit einer solchen Genauigkeit absolvieren die Semi-Profis unter den Mille-Teilnehmern die Wertungs- oder Sonderprüfungen. Ponton-Paolo verhaut sich beim Fahren über die Wertungsschläuche – wie gesagt - schon mal um eine Sekunde oder zwei.
Trotzdem: Mille-Fahren ist herrlich. Alles, was sonst verboten ist, ist heute erlaubt und findet unter wohlwollender Anteilnahme der Carabinieri und Polizia stradale statt: Fahren über rote Ampeln (normalerweise mindestens 155 Euro in Italien), Parken auf den Marktplätzen oder über 50 km/h schneller fahren als erlaubt (390 Euro). Alles kein Problem, man bleibt im Tross, und der macht das alles genauso.
Mille Miglia: Über den Monte Terminillo nach Rom
Wir liegen nach der kurzen Etappe gestern auf Platz 263 (von 377). Heute geht’s nach Rom. Über 500 Kilometer auf staubigen Landstraßen, mit emotionalen Höhepunkten wie dem Monte Terminillo. Um ihn herum winden sich Asphalt-Spaghettini: Die Piste ist ein Traum für alle, denen nicht leicht schwindlig wird. Und ein Alptraum für alle nicht Schwindelfreien, logisch. Diesmal sorgte der 2.000 Meter hohe Appeninen-Pass für eine eiskalte Überraschung: Hohe Schneewände türmten sich bis eng an die Piste, Nebel kam dazu. Gespenstisch, wenn vor dir im Nichts plötzlich ein gelber SL auftaucht, dessen Besatzung die Köpfe tief unter die offene Motorhaube gebeugt hat.
Polizei-Eskorte für die Mille Miglia-Teilnehmer
Was von diesem Freitag bleibt? Die vielen Bilder im Kopf. Vom erstklassigen Sommerwetter, das erst am Nachmittag kippte. Von Schulklassen an der Strecke, deren Mädchen "Please Stop"-Schilder hoch hielten, um mitgenommen zu werden (die Jungs forderten von ehemaligen Formel 1-Stars schlicht "Go, Mika! Gas!" Bilder auch von den Mille-Miglia-Groupies: Lotus Elise und Ferrari California, auch der eine oder andere Porsche Turbo, die sich in die Mille-Karawane der Oldtimer einreihen und nerven.
Die Mille Miglia 2010 erreicht Rom
Im Gedächtnis bleiben auch die Eskorten durch die italienischen Motorrad-Polizisten, die sich zehn oder 20 Oldtimer schnappen und sie - von ihrer schweren BMW aus den übrigen Verkehr dirigierend - in maximalem Tempo dem Ziel näherbringen, indem sie einfach eine dritte Fahrspur auf dem Mittelstreifen der Bundesstraßen aufmachen. Oder die Fahrt auf der Rennstrecke in Imola: unvergesslich auch sie.
Vor allem aber wird sich die Nacht in Rom für immer ins Gehirn brennen. Wie, mal wieder von hunderten Polizisten begleitet, die Mille Miglia-Teilnehmer zu Piazza unterhalb der Engelsburg geleitet wurden, wo um 23 Uhr noch Zuschauermassen die Innenstadt dicht machten, und die Autos hoch auf die beleuchtete Rampe fuhren, Fernsehkameras rechts und links. Danach dann die Tour durch die Altstadt, vom Petersdom am Kolosseum vorbei zur Spanischen Treppe. Eine Tournee der Auto-Klassiker durch die klassischen Kulissen der Ewigen Stadt.
Jochen Mass fährt seine 19. Mille Miglia
Und manch einer wird auch diesmal wieder in Schwarzweiß fotografiert haben – weil dann alles, wirklich alles wieder so aussieht, als wäre das Rad der Zeit in den Dreißiger Jahren eingerastet. Jochen Mass macht das mit seiner alten Nikon auch so: "Schwarzweiß reduziert alles auf das Wesentliche. Und das Wesentliche an der Mille ist, dass sich ihr Zauber nie abnutzt." Mass muss es wissen. Diese Mille ist schon seine 19.