Alles ist so wie vor 30 Jahren. Werner Breitschwerdt schaut kurz aus dem Fenster des Flugzeugs, in dem er von Stuttgart nach Süditalien reiste. Dann wirft er einen Blick in seine ledernde Aktentasche und blättert die zusammengestellten Unterlagen durch: gewissenhaft und routiniert. Sein Ziel heißt Nardò, ein Testzentrum im Niemandsland von Apulien.
"Seit 1983 war ich nicht mehr hier", erzählt der heute 86-Jährige, der damals als Forschungs- und Entwicklungsvorstand den Rekordversuch mit dem sportlichen "Baby-Benz" genehmigte.
Vollast-Testläufe über 50.000 km
Im August 1983 flog Breitschwerdt nach Süditalien, um die entscheidende Phase der Weltrekordfahrten mit dem Mercedes 190 E 2.3-16 zu verfolgen. Kaum war er an der Hochgeschwindigkeitskreisbahn im Testzentrum angekommen, gab es jedoch eine knifflige Aufgabe zu lösen: An einem 190 war der Verteilerfinger gebrochen. "Es ist möglich, dass dies ein später Folgeschaden der Kollision mit einem Fuchs war", meint Versuchsingenieur Gerhard Lepler, der damals am Steuer des Autos saß.
Das Problem: Nur die im Auto jeweils mitgeführten Ersatzteile durften verwendet werden, und ein neuer Verteilerfinger gehörte nicht zum auf fünf Prozent des Wagengewichts beschränkten Teilepaket. Lepler erinnert sich: "Bei unseren Versuchsläufen war nie ein solches Teil defekt, also haben wir es nicht eingepackt."
Drei Stunden und 18 Minuten verlor das Team "Grün" durch die Reparatur, während die anderen beiden Autos nur zu den Routinestopps an die Box kamen. Diese beiden Mercedes 190 E 2.3-16 drehten uhrwerksgleich ihre Runden. Kein Wunder: Unter der Leitung von Rallye-Haudegen Erich Waxenberger hatten die Stuttgarter vor dem Rekordversuch im August zwei Volllast-Testläufe über je 50.000 Kilometer absolviert.
Bei diesen Tests wurde nicht nur die Zuverlässigkeit der Mercedes 190 E 2.3-16 geprüft, sondern auch die Hinterachsübersetzung ausgetüftelt und nach den Erfahrungen Einzelheiten am Motor verfeinert. Verändert wurden zum Beispiel die Ventile gegenüber der ursprünglichen Version, um die volle Distanz von 50.000 Kilometern ohne Einstellen des Ventilspiels bewältigen zu können.
Cosworth macht aus dem 2,3-Liter einen Rennmotor
Herzstück der Rekord-190er sind die von der englischen Motorschmiede Cosworth konstruierten Zylinderköpfe mit je 16 Ventilen. Damit leistet der intern als M102 E23 bezeichnete Vierzylinder wie später in der Serie 185 PS. Aber nicht nur die Spitzenleistung sprach für den Motor, sondern auch der gleichmäßigere Drehmomentverlauf sowie der geringere Kraftstoffverbrauch und niedrigere Abgaswerte.
Cosworth ist vor allem durch seine für Ford entwickelten Formel-1-Motoren bekannt. Aber Ende der 70er- Jahre zeichnet sich durch den Trend zu aufgeladenen Motoren ein Ende der in Northampton entwickelten Saugmotoren vom Typ DFV ab. Die Firma schickt Bewerbungsschreiben an die Automobilhersteller, um für Entwicklungspartnerschaften zu werben. Einen solchen Brief erhält auch Dr. Jörg Abthoff, bei Daimler damals Hauptabteilungsleiter der Motorenentwicklung. So erinnert er sich drei Jahrzehnte nach der Rekordfahrt.
Pläne für einen Gruppe-B-Baby-Benz
Zwar hat Mercedes-Benz am 18. Dezember 1980 seinen Rückzug aus dem Rallye-Sport mit dem 500 SL (R107) verkündet. Aber es existieren bereits Pläne für ein Gruppe-B-Auto auf Basis des 190 (W201) mit verkürztem Radstand, dessen Seitenlinie an einen Autobianchi A112 erinnert: der 190 KL, wie zum Beispiel Automobilhistoriker Karl Ludvigsen diesen kompakten Prototyp bezeichnet.
Die Arbeit an einem geeigneten Triebwerk wird fortgesetzt: Bereits im August 1980 ist ein "Letter of intent" zwischen Cosworth und Daimler aufgesetzt: Cosworth-Konstrukteur Mike Hall, der unter anderem zuvor für den DFV-Motor verantwortlich war, kann mit der Arbeit beginnen. 13 Monate später ist der erste Zylinderkopf einsatzbereit. Noch im Herbst wird ein Vierzylinder mit diesem Cosworth- Kopf im 190 KL erprobt. Doch nicht das Testergebnis spricht gegen das Konzept, sondern der späte Vorstellungstermin für den W201 im November 1982: Da wäre die erste Saison der Gruppe-B-Autos bereits vorbei gewesen.
Also musste für den Sechzehnventiler eine neue Verwendung gefunden werden. "Mit dem 190er wollten wir neue Kunden gewinnen und die Jugend begeistern", erklärt Werner Breitschwerdt im Rückblick und fügt an: "Dann muss man sich sportlich betätigen." So entsteht die Idee, den Sechzehnventiler in eine Limousine vom Typ 190 einzupflanzen, als Prototyp für die sportliche Version des Viertürers. Da alle neuen Fahrzeuge sich ohnehin auf der Teststrecke von Nardò beweisen müssen, macht die Versuchsabteilung gleich einen Weltrekordversuch daraus.
3 Mercedes 190 E 2.3-16 starten zur Rekordjagd
Um nichts dem Zufall zu überlassen, unterliegt dieser Weltrekordversuch einer generalstabsmäßigen Planung. Die alten Rekordmarken für 25.000 Kilometer, 25.000 Meilen und 50.000 Kilometer bestehen seit 27 Jahren: ein Indiz für die hohen Anforderungen für die Verbesserung dieser Werte. Außerdem sorgen sich die Ingenieure um die Haltbarkeit der Motoren mit dem Zylinderkopf von Cosworth. Wegen eines Motorschadens muss ein Dauerlaufversuch im Dezember 1982 abgebrochen werden.
Alle weiteren Tests verlaufen aber ohne Probleme. So starten am 13. August 1983 drei identische 190 E 2.3-16 zur Rekordjagd. Am Steuer wechseln sich je sechs Fahrer aus der Versuchsabteilung ab. Zur Unterscheidung des Trios werden die Farbmarkierungen "Grün", "Rot" und "Weiß" gewählt: ein Wunsch der Sportkommissare des Weltmotorsport-Dachverbands FISA. Aber auch die Versuchsmannschaft an der Box kontrolliert permanent den Zustand der Autos. In regelmäßigen Abständen müssen die einzelnen Fahrer per Funk die Werte der in der Mittelkonsole zusätzlich eingebauten Kontrollinstrumente durchgeben.
So ist dieser Weltrekord auch ein Triumph der Planung und peinlich genauer Kontrolle. Allerdings bewältigen nur zwei Autos die komplette Distanz von 50.000 Kilometern: Das durch die lange Reparatur eingebremste Auto von Team "Grün" wird bei 49.196 Kilometern aus der Wertung genommen.
So wurden die Rekordfahrzeuge vorbereitet
Gegenüber den späteren Serienautos verfügten die Nardò-190er unter anderem über eine extrem lange Hinterachsübersetzung (i = 2,65), eine hydraulische Niveauregulierung zum Absenken des Autos um 1,5 Zentimeter, einen tieferen Frontspoiler, eine Abdeckung der Reserveradmulde am Unterboden, einen 160-Liter-Tank sowie Spezialreifen mit geringerem Rollwiderstand. Scheibenwischer und Außenspiegel wurden demontiert.