Zu den zahlreichen Traditionen, die sich im Laufe der 101-jährigen Bentley-Geschichte so angesammelt haben, zählt auch die, besonders schnelle und sportliche Autos mit dem Beinamen "Speed" zu versehen. Das begann 1928 mit dem Speed Six, der im Gegensatz zu seinen vierzylindrigen Vorgängern über einen 4,5-Liter-Reihensechszylinder verfügte. Demnach müsste das aktuelle Modell Speed Twelve heißen, womöglich kommt jemand bei Bentley auf diese Idee. Wir haben Zeit, darüber zu sinnieren, denn die Ampel zeigt rot und die Schranke an der Boxenausfahrt versperrt den Weg auf die Strecke.
Wir sind zu Gast im Audi Driving Center bei Neuburg an der Donau. Der nur 2,2 Kilometer kurze Handlingkurs ist eng angelegt, kein ideales Geläuf für einen Sportwagen mit rund 2,3 Tonnen Gesamtgewicht, einem Sechsliter-W12, Allradantrieb und fast 1.000 Nm Drehmoment. In 3,6 Sekunden wären wir 100 km/h schnell, wenn wir die Launch-Funktion aktivierten und losführen. Topspeed: 335 km/h, die werden wir heute eher nicht erreichen. Selbst dann nicht, wenn wir nach nebenan auf die knapp 2,5 km lange Startbahn des Luftwafffen-Flugplatzes auswichen, wo gerade zwei Eurofighter Anflugübungen veranstalten.
Los geht’s auf der Rennstrecke
Als Firmenchef W.O. Bentley übrigens Mitte der 20er Jahre den ersten getarnten Speed Six-Prototypen testete, so geht die Legende, fuhr er einmal damit nach Frankreich zum Grand Prix von Lyon. Auf der Rückfahrt zur Fähre traf er bei Dieppe auf einen Rolls-Royce-Testfahrer mit ebenfalls getarntem Fahrzeug. Die beiden Tester erkannten sich, lieferten sich daraufhin ein Rennen über die Landstraße in Richtung Calais, bis der Rolls-Royce-Pilot seinen Hut verlor und bremste. Bentley kam mit seinem Speed Six als Erster im Hafen an.
Ich erzähle das nur, damit Sie sich nicht langweilen, während wir auf grünes Licht warten. Der Drehschalter für die Fahrmodi ist bereits auf den Bentley-Modus geswitched, später wird auf "Sport" eskaliert. Doch so weit ist es noch nicht. Die Schranke schwenkt nach oben, die Ampel signalisiert Grün, los geht’s.
440 Millimeter große Bremsscheiben
Ein paar langsame Einführungsrunden, Einlenk- und Scheitelpunkte sind freundlicherweise mit Pylonen markiert, der Bremspunkt am Ende der kurzen Gerade nicht. 440 Millimeter messen die vorderen Karbon-Keramikscheiben, zehn Kolben klemmen zu, das sollte passen. Das Pace Car biegt ab, mit einem schnellen Fingerdruck wird das ESP in die zweite Stufe geklickt, und der Speed frisst zum ersten Mal die Gerade in Sekundenbruchteilen auf. Bremsen, etwas spät, doch das Einlenken passt gerade noch.
Das Spiel wiederholt sich ein paar Mal, die nächsten Runden werden noch etwas fixer. Erstaunlich, wie präzise und leichtfüßig dieser Trumm von einem Gran Turismo ums Eck geht. Kein Untersteuern, wenig Seitenneigung – der Continental beißt sich in die Ecken, und selbst grober Unfug beim Gas Geben bringen ihn nicht aus der Ruhe.
ESP ganz ausschalten
Klar, sie haben ihm ja auch alles mitgegeben, was es bei der MSB-Plattform so an Fahrwerks-Wohltaten so gibt, Dreikammer-Luftfedern, Wankausgleich dank 48V-Bordnetz, Allradlenkung, dynamischen Allradantrieb und als Premiere bei Bentley ein elektronisch gesteuertes Sperrdifferenzial an der Hinterachse.
Deutlich mehr Leben kommt in den Bentley, wenn das ESP ganz ausgeschaltet wird und der Fahrmodus-Schalter in die "Sport"-Position kommt. Dann verschiebt die variable Kraftverteilung mehr Power nach hinten, die Lenkung agiert etwas direkter, provozierte Lastwechsel lassen das Heck ausscheren, und wer es sich zutraut, kann den Continental mit entschlossenem Gasfuß im kontrollierten Drift auf die Gerade fliegen lassen.
Soundsystem für 6.730 Euro
Fünf Runden in Neuburg sind so sehr rasch vorbei, zwei Runden abkühlen heißt danach. Was wiederum Zeit gibt, sich im Continental Speed umzuschauen. Fein gestepptes Leder, klavierlackpoliertes Holz, alles bestens verarbeitet. Wie es sich für ein Auto dieser Kategorie nun mal gehört. Zum Preis des Speed wird noch nichts vermeldet, immerhin stehen die Aufpreise einiger Sonderausstattung des dunkelgrünen Testwagens dabei: Touring Specification: 6.480 Euro, Komfortsitze: 3.210 Euro, Karbon-Bremsanlage 11.890 Euro, drehbares Display: 4.870 Euro. Das Naim-Soundsystem für 6.730 Euro bleibt diesmal ungetestet.
Der recht frische Fahrbahnbelag und die fast komplette Abwesenheit von Unebenheiten lassen im Übrigen keine Rückschlüsse über die Komfortqualitäten der Luftfederung oder das Abrollverhalten der 22-Zöller zu. Dazu müsste man den Wagen auf anderem Terrain fahre, etwa auf schnellen Landstraßen, gern durch die Normandie. Das würde bestimmt auch W.O. Bentley gut gefallen.