Künstliche Intelligenz, so sagt man, sei eine feine Sache, denn sie könne dabei helfen, Probleme zu lösen, indem sie Prozesse beschleunige, rechne, plane, dabei lerne, antizipiere, logisches Denken imitiere. Kann sein. Doch es gibt ein paar Dinge, die kann Künstliche Intelligenz nicht auflösen, weil Körpergefühl gefragt ist – zum Beispiel fürs Feintuning eines Fahrwerks. Bei der Vorarbeit unterstützt zwar der Computer, und auf Prüfständen kann man viel simulieren, das Hobeln und Raspeln auf Teststrecken überspringen, so Zeit, Material und Geld sparen. Wenn die fahrbereite Basis aber steht, kommt der Mensch hinterm Lenkrad ins Spiel, geht’s ans Schleifen – erst grob, dann immer feinkörniger, bis nach Tausenden Testkilometern das finale Set-up steht, die Serienproduktion beginnen kann. Bis dahin ist es nicht mehr weit für den Kia EV9, ein siebensitziger Elektro-SUV der Fünf-Meter-Kategorie, der Ende des Jahres in Korea vom Band rollen wird. Momentan jedoch hat Fahrwerksingenieur Daniel Junker noch Arbeit vor sich, denn die endgültige Abstimmung ist noch nicht fix. Trotzdem lässt er uns schon heute hinters Steuer eines akkurat in Tarnfolie verpackten Prototyps.
Eine Frage der Frequenz
Vor der Praxis aber ein wenig Techniktheorie: Vorn kniet die kantige Karosserie auf MacPherson-Federbeinen mit Gasdruckstoßdämpfern, hinten ist eine Fünflenkerachse mit massiven Radträgern und hydraulisch arbeitendem Niveau-Ausgleich installiert. Der ist besonders wichtig, um im Ernstfall über drei Tonnen Masse (wir schätzen, dass zu den gut 2,5 Tonnen Leergewicht des Versuchsträgers mit 99,8 kWh-Akku weitere 700 kg zugeladen werden dürfen) abstützen zu können, ohne dabei zum Beispiel Probleme mit Änderungen von Spur, Sturz oder Nachlauf zu bekommen.
"An der Vorderachse arbeiten wir mit frequenzabhängigen Dämpfern", streut Junker eher beiläufig ein und sorgt für große Augen des Redakteurs, der bei einem Vehikel dieses Formats ein elektronisch geregeltes Fahrwerk mit adaptiven Stoßdämpfern erwartet hätte. "Um im Kostenrahmen zu bleiben, haben wir uns für die vermeintlich einfachere Variante entschieden", erklärt der Fahrdynamiker. Vermeintlich, weil technisch weniger komplex.
Von Bypassventilen und Teernähten
Die Abstimmungsarbeit dagegen ist aufwendiger, weil man nicht mal eben den Laptop anschließen kann, um ein paar Kennlinien zu ändern. Will man den frequenzabhängigen Zweirohr-Gasdruckstoßdämpfer tunen, muss man an die Hardware in Form von Zug- und Druckstufenventilen, die die Öldurchflussmenge beim Ein- und Ausfedern regulieren, so eine bestimmte Dampfkraft aufbauen. Wobei gilt: Je schneller die Anregung (Highspeed), desto weniger stark wirkt der Dämpfer diesen Bewegungen entgegen, um sie bestmöglich zu filtern. Sind die Anregungen langsamer (zum Beispiel Lenkimpulse oder lange Bodenwellen), ist die Dämpfkraft für eine bessere Aufbaukontrolle höher. "Zusätzlich haben wir hier eine Art zusätzlichen Bypass im Arbeitsrohr. Wird durch den Kolben zu einer bestimmten Zeit zu viel Druck aufgebaut, öffnet sich ein Ventilsystem, sodass ein Teil des Öls entweichen kann. So erhöhen wir Fahrstabilität und Komfort."
Tunen kann man das grundsätzliche und frequenzselektive Dämpfungsverhalten also über die Konfiguration des Bypassventils, aber auch über Dicke und Durchmesser der verschiedenen Stahlscheiben in den Zug- und Druckstufenventilen. Und dabei ist Feinstgefühl gefragt. "Nimmst du zum Beispiel eine 0,1 Millimeter dünne Scheibe raus, fährt das Auto komplett anders", berichtet der Fahrwerker mit sichtlichem Vergnügen, der einen Teil seiner Erprobung realitätsnah, also auch im Straßenverkehr, absolviert. Zum Beispiel auf den schmalen und verwinkelten Straßen rund um den Nürburgring. Hier ist der Asphalt wellig, geflickt, hängen die Kurven. Fährt man über Querkanten und Fugen oder Unebenheiten wie Teernähte, wird die Karosserie gestaucht und entlastet, sind Fahrwerk und Aufbau ununterbrochen angeregt. Und dann gibt’s da ja auch noch Kurven. "Wenn das alles zusammenkommt, du auch noch kleine Spurwechsel mit einbaust und das Fahrwerk trotzdem alles frisst, das Auto stabil bleibt, dann hast du deinen Job gut gemacht", sagt Junker, der schon die Abstimmung von Kia EV6 und Hyundai Ioniq 6 verantwortete.
Schlechtwegestrecken stehen auf dem Plan
Doch wir sind nicht in der Eifel, sondern im Emsland, auf dem Gelände von ATP Automotive Testing Papenburg, einer Testanlage, eingerahmt von einem Zwölf-Kilometer Oval. Topspeed und Querdynamik stehen heute allerdings nicht auf der Agenda. Uns interessiert mehr, wie das Fahrwerk die Fahrten auf den Schlechtwegestrecken verdaut. Junker merkt an, dass es "bei der Fahrwerksentwicklung natürlich hilft, wenn sich am Reifen nichts mehr ändert". Der Ingenieur hat unter anderem mit Continental eine auf den EV9 abgestimmte Spezifikation des PremiumContact entwickelt. Die ist nicht wie üblich durchnummeriert, sondern trägt ein "C" als Kennzeichnung dafür, dass es sich um eine Erstausrüstung handelt, bei der zum Beispiel Karkasse, Gürtelwinkel und Mischung angepasst wurden. Immerhin müssen die vier 285 mm breiten Gummisohlen im Ernstfall über drei Tonnen Gewicht tragen (Tragfähigkeitsindex 113: Erlaubt sind bis zu 1,15 t Last je Rad), gleichzeitig genug Eigendämpfung bieten (45 Prozent Querschnitt), möglichst leise und widerstandsreduziert abrollen sowie immer griffig sein. Das alles könne der heute mit einem Fülldruck von 2,5 bar rundum antretende Conti, sagt Junker, der offensichtlich mit einer großen Portion Abenteuerlust gesegnet ist. Denn erstens steht der Versuchsträger mit 21-Zöllern auf der größtmöglichen EV9-Reifenoption.
Zweitens starten wir unsere Probefahrt auf einer Strecke, die der Fahrwerkstuner bisher nicht ausprobiert hat und auf der gewöhnlich Lkw unterwegs sind. Hier soll das Fahrzeug, von kleinen Betonwellen wechselseitig und -achsig angeregt, ja regelrecht aufgeschaukelt werden. Dabei taucht der EV9 (Radstand: 3,10 m) tief ein, steckt die Verschränkungen bei rund 110 km/h aber locker weg, verliert nicht ansatzweise den Bodenkontakt und – viel erstaunlicher – bleibt absolut spurstabil, folgt der Linie ohne nennenswerte Lenkradkorrekturen.
Ein G kommt selten allein
Nächste Station: Die Ein-g-Senke. Hier wird das Fahrzeug bei Tempo 80 mit einem g gestaucht – maximaler Stress fürs Fahrwerk. Doch das ist noch nicht alles, denn gleich darauf wird der 2,5-Tonner über eine Kuppe stark entlastet (siehe Bilder unten). "Das geht schneller", sagt Junker nach zwei verhaltenen Probeläufen. Kurze Zeit später stehen über 100 km/h auf dem Digitaltacho, wobei die Zusatzfeder am oberen Ende des Dämpferkolbens an ihre Grenzen kommt, der Wagen "auf Block geht", wie man sagt. Ein harter Schlag bleibt jedoch aus, denn auch hier hat der Ingenieur auf einen gewissen Restkomfort geachtet.
Junker grinst: "Na klar, die Bumpstops tunen wir ebenfalls." Und er hat gut lachen, denn auch an dieser Stelle gerät der EV9 nicht aus dem Tritt, zuckt bei extremer Entlastung (kurz vor Bodenkontaktverlust) lediglich leicht an der Vorderachse, hält dennoch die Linie und biegt mit unverändertem Tempo zielsicher in die anschließende Rechtskurve ab. Nichts, was man dem Prototyp ankreiden könnte. Ortswechsel. "Große Kiesel", eine Marterstrecke mit unzähligen abgerundeten, in die Fahrbahn eingelassenen Steinen. Im echten Leben wird der EV9 wahrscheinlich nie über eine solche Piste rollen.
Nichts ist unmöglich
Doch Entwicklungsarbeit bedeutet auch, an die Grenzen zu gehen, das vermeintlich Unmögliche abzuprüfen. Mit hohem Tempo würde es hier nach kurzer Zeit wahrscheinlich Schweißpunkte und Radträgergelenke zerreißen. Also gehen wir es gemächlich an, mit 10 km/h. Natürlich dringen die faustdicken Brocken in den Aufbau. Dennoch dämpft das Fahrwerk ordentlich, filtert nervige Stöße schon im Ansatz, ist die Akustik trotz längst nicht finaler Dämmung gut. Genauso beim Überfahren einer im Boden verschraubten Schwelle, wie sie in verkehrsberuhigten Zonen vorkommt. Hier zeigt sich noch eine weitere Eigenschaft: die Parallelität von Vorder- und Hinterachsdämpfung. Denn gerade bei Fahrzeugen, die theoretisch eine hohe Zuladung vertragen, spricht die Vorderachse fein an; die oft leicht überdämpfte Hinterachse hingegen quittiert – wenn sie nicht belastet ist – den kleinen Buckel poltrig, mit einer kurzen, heftigen Vertikalbewegung. Doch auch hier zahlt sich die Akribie des Fahrwerkers aus, wird die Hinterachse nicht wie ein Anhängsel einfach nachgezogen, sondern verarbeitet sie die Schwelle mit ähnlicher Dämpfkraft wie am Vorderwagen. Das passt zum EV9, der in erster Linie ein komfortables Familienauto sein soll. "Unterm Strich ist es halt immer ein Kompromiss aus Komfort und Sportlichkeit", merkt Junker an und lotst uns auf eine Strecke mit verschiedenen Kurvenradien, Fahrbahnbelägen sowie schlecht eingepassten Gullydeckeln. Dorthin, wo es auch auf die Lenkung ankommt.
Trotz eingebauter Versatzstücke müssen wir nicht nachsteuern oder korrigieren. Kein Schlagen, kein Stoßen, keine störenden Vibrationen. Ein Lenkeinschlag. Fertig. Ganz fertig ist Junker mit seiner Arbeit aber noch nicht: "An ein, zwei Stellen muss für meinen Geschmack noch ein wenig justiert werden." Und wenn nicht Ende Mai die Deadline drohte, könne er am EV9-Fahrwerk noch lange weitertüfteln. Bei seiner Arbeit ist also nicht nur Gefühl gefragt, sondern sind auch Herz und Enthusiasmus wichtig. Weitere Eigenschaften, die Künstliche Intelligenz nicht bieten kann.
Erste technische Daten vom Kia EV9
Ohne Tarnfolie kommt das kantige Kia-Design noch mehr zur Geltung, der bullige Bug, die schwarz abgesetzten Radhaus-Außenverkleidungen. 5.010 x 1.980 x 1.755 Millimeter (Länge, Breite, Höhe) misst der wuchtige Kia, der mehr als 2,5 Tonnen wiegen dürfte. cw-Wert: 0,28. Unterm Fahrgastraum mit bis zu sieben Sitzen steckt der Akku (76,1 oder 99,8 kWh), der dank 800 Volt Spannung sehr schnell Strom lädt. Bis zu 160 kW (350 Nm) leistet der Hinterachsantrieb, der Allradler mit zwei PSM-Maschinen 283 kW (700 Nm). Weitere Features: Vehicle-to-Load-Funktion, autonomes Fahren nach Level 3, Online-Updates.
Fazit
Die erste kurze Fahrt mit einem noch nicht finalen Prototypen des Kia EV9 macht Lust auf mehr. Komfort kann das fünf Meter lange Schiff auf jeden Fall, obwohl sein Fahrwerk nicht elektronisch geregelt wird. Und das Feedback der Lenkung passt ebenfalls. Wie weit der Elektro-SUV kommt, wie schnell er lädt und ob er als Siebensitzer auch im Alltag überzeugen kann, finden wir in ein paar Monaten bei der ersten Testfahrt mit dem Serienauto heraus.