Was wäre ein würdiges Schicksal für den Überraschungs-Zweiten eines legendären 24-Stunden-Rennens? Weitere Renneinsätze würde man meinen. Oder vielleicht ein exquisiter Standplatz im Museum? Ersteres gab es für den Mercedes 300 SEL 6.8 AMG tatsächlich. Acht weitere Starts binnen zwei Jahren durfte der stattliche 1.635-Kilo-Sportler noch absolvieren - darunter auch die 24 Stunden am Nürburgring. Allerdings kam das hinter vorgehaltener Hand liebevoll "rote Sau" genannte Fünf-Meter-Schiff bei seinem zweiten Round-the-Clock-Einsatz in der Eifel nicht ins Ziel.
Rennwagen mit einmaligem Schicksal
Ein Ehrenplatz im Museum blieb der im 24h-Renntrimm 398 PS starken, später aber auf bis zu 428 PS leistungsgesteigerten V8-Limousine hingegen verwehrt. Dem gewichtigen Viersitzer blühte ein in der Rennwagen-Geschichte einmaliges Schicksal: Er wurde einberufen - vom französischen Rüstungskonzern Matra. An der militärischen Testfront sollte der mit exzellenten Sprinterqualitäten ausgestattete rote Renner für die Luftwaffe nach geeigneten Start- und Landebahnen für Kampfjets fahnden, indem er auf einem Kilometer bis 200 km/h beschleunigte.
Zu diesem Zweck wurde der Hecktriebler aufwändig umgebaut, mit allerlei Messsystemen versehen und für die Straße zugelassen. Dann verschwand der nunmehr 2.400 Kilogramm schwere ehemalige Hochleistungssportler im französischen Nirwana. Das hätte das unrühmliche Ende einer zwar kurzen, aber durchaus beachtenswerten Karriere sein können, wäre da nicht das 40-jährige AMG-Jubiläum gewesen. Um den einmaligen Jahrestag, dem sport auto mit zweijähriger Verspätung folgt, würdevoll begehen zu können, entschied man sich zum Neuaufbau des legendären Rennwagens auf Basis eines erhalten gebliebenen Serien-Mercedes 300 SEL.
Der original V8-Rennmotor leistete 420 PS
Mit diesem teilt die feuerrote Replika, die dem in Spa von Hans Heyer und Clemens Schickentanz so erfolgreich pilotierten Rennwagen optisch aufs I-Tüpfelchen gleicht, auch die Technik. Da der Original-Rennmotor nebst dazugehöriger Rennkupplung eine Diva und nur schwer zum Laufen zu bringen war, implantierten die AMG-Ingenieure dem Nachbau kurzerhand einen 350 PS starken 6,3-Liter-Motor. Dies und die zugunsten problemloser Startmanöver daran gekoppelte Viergang-Automatik (das Original griff auf ein manuelles Fünfganggetriebe zu) haben den Newcomer im historischen Kleid sicher Temperament gekostet.
Bei einer ersten Spritztour in und um Affalterbach herum fiel der straßenzugelassene rote Renner jedenfalls eher durch markiges Gebrüll und an die Geräusche großkalibriger Schusswaffen erinnerndes Idle-Jet-Geboller als durch fulminanten Zug an der Kette auf. Macht aber nichts: Den mit über drei Grad Sturz an der Hinterachse angetretenen V8-Brecher sicher auf welligen Landstraßenpisten zu halten, fällt mit 350 PS schwer genug. Dafür gefällt die Sitzposition in den gut konturierten, mit Vierpunkt-Gurten versehenen Sitzen kaum minder gut als im aktuellen, strikt dem Alltagsgebrauch vorbehaltenen Mercedes S 63 AMG.
Mindestens 137.683 Euro kostet das aktuelle AMG-Modell
Ergonomie konnten sie also damals schon in Affalterbach - pardon: Burgstetten. Dort nämlich haben die AMG-Gründerväter Hans Werner Aufrecht und Erhard Melcher anno 1969/70 ihren auf der Rohkarosse eines Unfallwagens aufbauenden Renn-SEL in endlosen Tag- und Nachtschichten zusammengebastelt. Am Ende summierte sich der theoretische Wert des V8-Rennwagens inklusive Material und Arbeitslohn auf round about 120.000 Mark. Für so kleines Geld ist der aktuelle S 63 AMG nicht mehr zu haben. Mindestens 137.683 Euro muss berappen, wer den inzwischen auf 5,12 Meter Länge gewachsenen Edel-Mercedes sein Eigen nennen will. Dafür gibt‘s dann aber auch rund 100 Pferdestärken und 400 Kilo obendrauf.
Unangenehm bemerkbar macht sich die stattliche Gewichtszunahme freilich nicht - im Gegenteil. Im Inneren der gediegenen Reiselimousine mit Platz für Fünf ist ähnlich viel Wohlgefühl angesagt wie im heimischen Wohnzimmer. Selbst Fernsehschauen ist kein Problem. So lange das Auto steht, können die vorderen Insassen alle gängigen Satellitenprogramme in bester Bild- und Tonqualität empfangen und genießen. Notorisches Brüllen, Klötern und Knallen, ohne das bei der Mercedes-Renn-Limo der frühen Siebziger gar nichts geht, ist bei der aktuellen Mercedes S-Klasse selbstredend kein Thema. Genüsslicher als im S 63 AMG lässt es sich kaum reisen. Von Abroll- und Außengeräuschen unbehelligt gleiten die V8-Reisenden durch ihre eigene heile Welt.
Der Renn-SEL ist schneller als der S 63 AMG
Einzig der auch heute noch auf 6,3 Liter Hubraum zugreifende 525-PS-Saugmotor darf selbst in diesem gediegenen Umfeld nachdrücklich seine Stimme erheben. Dem vehementen Tritt aufs Gaspedal folgt heiser-kehliges AMG-V8-Gebrabbel. Gehen tut die neue Fünf-Meter-Plus-Limousine trotz ihres Handicaps von rund zwei Tonnen Lebendgewicht gleichfalls wie die Sau: Binnen 4,6 Sekunden liegt Tempo 100 an. Das Serienauto der frühen 70er Jahre nahm sich für die gleiche Übung noch 6,7 Sekunden Zeit. In Bezug auf die Höchstgeschwindigkeit muss der aktuelle S den alten Renn-SEL freilich ziehen lassen.
Der freiwilligen Selbstbeschränkung der deutschen Automobilindustrie folgend ist auch beim Topmodell bei 250 km/h Schluss mit lustig. Dann bremst die Elektronik. Das feuerrote schwäbische Rennerle hingegen durfte einst mit bis zu 285 km/h über die Strecke preschen. Wie sich das angefühlt haben mag, wollen wir allerdings lieber nicht wissen. Mit der stoischen Geradeauslaufqualität der Jetztzeit dürfte der Hochgeschwindigkeitstanz des 300 SEL 6.8 AMG nicht allzu viel gemein gehabt haben. Eher schon - das legt das unterhaltsame Fahrverhalten des großen Roten bei Landstraßentempo nahe - mit quietschfidelem Hin-und-Her-Gehoppel. Aber ein bisschen unverhohlene Lebensfreude schadet ja nicht - oder?
Mercedes S 63 AMG | |
Grundpreis | 143.752 € |
Außenmaße | 5152 x 1871 x 1473 mm |
Kofferraumvolumen | 560 l |
Hubraum / Motor | 6208 cm³ / 8-Zylinder |
Leistung | 386 kW / 525 PS bei 6800 U/min |
Höchstgeschwindigkeit | 250 km/h |
Verbrauch | 14,4 l/100 km |