Die Formel-1-Saison 2024 ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Jahr. Schon lange nicht mehr hat es so viele Siegkandidaten gegen. Und schon lange nicht mehr lagen die Teams so eng zusammen. Es gibt nur eine größere Lücke im Feld, und die macht aus einem Grand Prix zwei Rennen. Das der Top-4-Teams und das vom Rest.
In den beiden Gruppen kommt es mehr denn je auf das kleinste Detail an. Ein Fehler am Freitag kann am Sonntag den Sieg oder einen Punkteplatz kosten. Es wird immer wichtiger, sich die richtigen Reifenmischungen für den Sonntag zu reservieren und anhand der wenigen Runden in den Freitags-Longruns zu lesen, wie sich die Reifen am Sonntag im Dauerbetrieb verhalten werden.
Leclerc mit einem Stopp in Suzuka
Setup, Asphalttemperatur oder die Windrichtung können am Sonntag das Bild der Startaufstellung und sämtliche Prognosen auf den Kopf stellen. Selten hatten so oft Strategien Erfolg, die nach den Prognosen der Strategieprogramme eigentlich nicht funktionieren sollten. Und das, obwohl die Simulationen in der datengetriebenen Formel-1-Welt eigentlich immer genauer werden sollten.
George Russell gewann mit einem einzigen Reifenwechsel in Spa, Charles Leclerc in Monza. Der Verzicht auf einen Boxenstopp hat aber auch weiter hinten Erfolg. Leclerc fuhr in Suzuka vom achten Startplatz mit einem Einstopp-Rennen auf Platz vier. Die alternative Taktik verschaffte ihm die meiste Zeit freie Fahrt. Das schonte die Reifen.
In Shanghai zahlte sich der minimalistische Ansatz gleich für drei Piloten aus. Lando Norris, Charles Leclerc und Carlos Sainz belegten die Plätze zwei, vier und fünf. Alle anderen hatten auf das Standardprogramm mit zwei Stopps gesetzt. Ein Safety-Car half mit, die Reifen über die Distanz zu bringen.
Zwei Faktoren halfen Russell
In den letzten vier Rennen häuften sich die Strategien gegen den Trend. Yuki Tsunoda wäre in Budapest nie auf den zehnten Platz gefahren, hätte er nicht das Unmögliche möglich gemacht. Nicht einmal sein Team glaubte an den Erfolg der Einstopp-Taktik. Erst während des Rennens kristallisierte sich heraus, dass sich der Toro-Rosso-Pilot einen Stopp sparen kann, wenn er die Reifen streichelt. Der Trick war auch diesmal, Tsunoda aus dem Verkehr zu lotsen.
In Spa schlug der Blitz dann vollständig ein. George Russell stand zu Halbzeit des Rennens auf keinem Tippzettel für den Sieg. Bis der Engländer spürte, dass die Reifen durchhalten könnten. Und weil es nichts zu verlieren gab, stimmten die Strategen der Anregung ihres Piloten zu. Das gleiche trifft auf Fernando Alonso zu, der nur dank einer Einstopp-Taktik zu zwei WM-Punkten kam.
Zwei Umstände halfen Russell bei seiner Mission. Der Mercedes-Pilot war die zweite Hälfte des Rennens völlig allein unterwegs. Nicht mal überrundete Fahrer standen im Weg. Und der Wind blies auf der langen Kemmel-Gerade von hinten. Das machte das Überholen schwerer als üblich. Keiner der beiden Faktoren war vorhersehbar. Russell schloss daraus: "Wir werden in Zukunft noch genauer hinschauen und auf solche Dinge reagieren müssen."
Ferrari deutet Zeichen richtig
Monza war dann der Klassiker. Wie groß war das Geschrei vor dem Rennen, dass die Reifen auf dem neuen Asphalt körnen und damit die rechnerisch bessere Einstopp-Strategie unmöglich machen werden? Alle hoben sich in Panik zwei Satz harte Reifen auf, obwohl keiner wusste, wie sich dieser Reifentyp verhalten werde. Nur Tsunoda war ihn im Training am Freitag gefahren.
Red Bull legte dann noch die falsche Fährte. Max Verstappen und Sergio Perez wurden auf der harten Mischung ins Rennen geschickt und waren so für alle anderen der Anhaltspunkt, wie lange die C3-Gummis durchhalten. Als die Red Bull-Piloten schon nach 20 Runden über Gripverlust klagten, dachte der Rest: Das wird so schlimm wie erwartet. Der Denkfehler dabei: Red Bull war an diesem Wochenende kein Maßstab.
Nur Ferrari ließ sich nicht in die Irre führen. Die Italiener segelten auf Sicht. Der Rennverlauf, das Feedback der Fahrer und die Reifendaten bestimmten die Entscheidung. Schon bei Halbzeit des Rennens stand für den Kommandostand fest: Wir fahren durch. Die Reifen halten. Es zahlte sich aus, weil McLaren das Risiko scheute. Oscar Piastri hätte mit der Leclerc-Taktik vermutlich gewonnen.
So wie Ferrari deuteten auch Williams und Haas die Rennsituation richtig. Beide adoptierten die Ferrari-Taktik und wurden mit Punkten belohnt, die sie bei einem Zweistopp-Rennen an Aston Martin verloren hätten. Der WM-Fünfte traute sich selbst zu wenig zu. Die Fahrer schlugen ein Tempo an, dass einen Stopp praktisch ausschloss.
Bei den nächsten beiden Grands Prix haben die Pokerspieler Pause. Baku und Singapur sind klassische Einstopp-Rennen. Weniger geht nicht. Doch in Austin könnte wieder die Stunde der Strategen schlagen, die das Rennen richtig lesen und sich trauen gegen den Strom zu schwimmen.