Das Ergebnis des zweiten Trainings liest sich wie ein Science-Fiction-Roman. Die Motorsport-Welt hätte alles verwettet, dass Max Verstappen wieder seine Einmann-Show abliefert. Und dann führen plötzlich zwei Mercedes die Reihenfolge an – vor einem Aston Martin, einem Ferrari, einem McLaren und Max Verstappen. Dem Weltmeister fehlte in seiner schnellsten Runde fast eine halbe Sekunde. Red-Bull-Teamkollege Sergio Perez lag mit sieben Zehntel noch weiter zurück.
Ist das schon ein Machtwechsel in der Formel 1? Red-Bull-Sportdirektor Helmut Marko und Mercedes-Teamchef Toto Wolff glauben nicht, dass damit die Welt aus den Angeln gehoben wurde. Aber das Feld liegt offenbar enger zusammen, als es viele vorausgesagt haben. Auf eine schnelle Runde ist Red Bull verwundbar. In der Rennsimulation hat Verstappen weiter die Nase vorne. Aber nicht mehr so deutlich wie im letzten Jahr und bei den Testfahrten vor einer Woche. Mercedes, Ferrari, Aston Martin und McLaren sind nur durch Wimpernschläge getrennt.
Das gleiche Bild zeigt sich in der zweiten Tabellenhälfte. Toro Rosso, Williams, Haas, Sauber und Alpine kämpfen einen Kampf um Zehntelsekunden. Die Reihenfolge um die Plätze hinter den Top Ten hängt von Kleinigkeiten ab. Am ersten Trainingstag der neuen Saison machte Toro Rosso die beste Figur. Und Haas bewies wie schon bei den Testfahrten, dass man den Reifenverschleiß viel besser im Griff hat als im letzten Jahr.
Sechs Dinge, die Sie wissen müssen
Hat Red Bull verzockt?
Max Verstappen stand auf allen Tippzetteln an erster Stelle. Am Ende landete der Weltmeister mit einer Zeit von 1.30,851 Minuten nur auf Platz 6. Der Abstand zur Bestzeit betrug 0,477 Sekunden. Teamkollege Sergio Perez schaffte es mit 1.31,115 Minuten mit Mühe in die Top Ten. Da die schnellen Zeiten auf den C3-Reifen alle kurz vor den Longruns absolviert wurden, sind sie auch vergleichbar.
Red Bull ging noch mit einer moderaten Power-Stufe des Motors in das zweite Training. "Da haben einige andere den Motor mehr aufgedreht als wir, aber nicht alle", führt Marko ins Feld. Auch Ferrari ließ sich beim Motor noch Reserven. Mercedes-Teamchef Wolff gibt zu: "Nach unseren Berechnungen sind wir mit etwas mehr Motorleistung gefahren als Red Bull."
Marko führt die klare Niederlage im Vergleich der schnellsten Runden auch auf die niedrigen Temperaturen und den böigen Wind zurück. "Das hat uns offenbar mehr geschadet als den anderen. Die Leichtigkeit vom Test ist weg. Auf eine Runde wird es ein enges Rennen mit Ferrari und Mercedes. Im Longrun haben wir noch die Nase vorn, aber nicht so deutlich wie erwartet."
Perez bekommt von Marko ein Lob: "Er ist nur zwei Zehntel weg von Max und im Longrun noch näher dran. Das ist für seine Verhältnisse gut. Wenn er das halten kann, sind wir zufrieden." Die Klagen des Starpiloten über harsche Schaltvorgänge nimmt Marko nicht so ernst: "Das kennen wir von Max. Irgendwie ist es sein Lieblingsthema. Ich bin sicher, dass wir das bis morgen gelöst haben."
Wo holt Mercedes seine Zeit?
Das gab es seit den goldenen Mercedes-Zeiten nicht mehr: Zwei Mercedes führen die Rangliste an. Lewis Hamilton stellte mit seiner Tagesbestzeit von 1.30,374 Minuten die jüngere Formel-1-Zeitrechnung auf den Kopf. George Russell folgte seinem Mercedes-Kollegen mit einem Abstand von zwei Zehnteln. Der Brasilien-Sieger von 2022 mahnt, auf dem Boden zu bleiben. "Wir dürfen jetzt nicht übermütig werden. Wir sind auf eine Runde besser als erwartet, müssen aber noch Erklärungen finden, warum das so ist." Lewis Hamilton atmete auf: "Wir können zwar im Longrun noch nicht mit Red Bull mithalten, aber ich fühle mich im Auto um Welten wohler als zum Ende der letzten Saison."
Toto Wolff schwört, dass man bei den Testfahrten nicht geblufft hat. "Es gab keinen Grund dazu. Wir mussten unser neues Auto erst einmal verstehen lernen." Der Österreicher führt das gute Ergebnis auf eine Reihe von Umständen zurück. Mercedes war am letzten Trainingstag mit der Geometrie der Vorderachse auf zu viel Anti-Dive gegangen und deshalb im Testergebnis unter Wert geschlagen worden. Außerdem war der dritte Dämpfer der Hinterachse zu steif eingestellt worden, um tiefer fahren zu können. Das war ein Schuss nach hinten und damit eine Lektion für das GP-Wochenende. Das verhasste Bouncing kam nämlich als Konsequenz wieder zurück.
Für das zweite Training ging Mercedes an der Hinterachse wieder eine Spur weicher. Weil man anfangs zu viel Bodenkontakt hatte, musste auch die Bodenfreiheit nachjustiert werden. Mit dieser Einstellung konnte man das Bouncing auf eine Stelle begrenzen. "In Kurve 12 haben wir es noch", verrät Wolff. Er fürchtet aber: "Mit mehr Grip von der Strecke könnte es auch an anderen Orten zurückkommen. Das haben wir im letzten Jahr oft genug erlebt." Trotzdem war das Aufatmen bei Mercedes deutlich zu hören. Wolff: "Wir haben jetzt eine Basis, mit der wir das Auto viel besser feintunen können. Im Longrun liegen wir noch drei Zehntel hinter Max, aber das war weniger als erwartet."
Was kann Ferrari?
Ferrari fehlten auf die Bestzeit vier Zehntel. Die schnellste Runde von Carlos Sainz zeigte nicht alles, was Ferrari kann. Qualifikations-König Charles Leclerc brauchte drei Anläufe. Im ersten Versuch unterlief Leclerc ein Fehler, im zweiten stand in Kurve 1 Lance Stroll im Weg. Als er mit 1.31,113 Minuten die neuntschnellste Runde drehte, hatten die Reifen schon drei Runden auf der Lauffläche.
Teamchef Frédéric Vasseur notierte zufrieden: "Wir liegen in den Longruns noch immer hinter den Red Bull, aber der Abstand bewegt sich in einer Größenordnung, die man aufholen kann." Auch Sainz hakte den Donnerstag in Bahrain als Erfolg ab: "Mit dem starken Wind und den tiefen Temperaturen war es schwieriger als bei den Testfahrten. Es sieht aber so aus, als wären wir dort, wo wir uns erwartet haben." Leclerc gab sich etwas kritischer: "Wir müssen bei der Balance noch ein paar Hausaufgaben erledigen."
McLaren oder Aston Martin?
Alle reden von Red Bull, Ferrari und Mercedes. Doch wo stehen McLaren und Aston Martin? Sie sind mittendrin in der Schlacht um die besten Plätze hinter Red Bull. Fernando Alonso war mit der drittschnellsten Zeit die Überraschung unter Qualifikationsbedingungen. Oscar Piastri egalisierte im Dauerlauf fast die Perez-Zeit.
Nach Aussagen der Analysten war der 13-Runden-Stint des Australiers real und nicht mit weniger Benzin im Tank oder deutlich mehr Motorleistung erkauft. Der letzte Platz von Lando Norris hat nicht viel zu bedeuten. Der Engländer musste seine schnellste Runde auf den Soft-Reifen nach einem Fehler im letzten Sektor abbrechen. Teamkollege Piastri freute sich: "Das Auto hat mit viel und wenig Sprit im Tank eine gute Figur gemacht."
Sind die Haas besser als erwartet?
Nico Hülkenberg war mit dem ersten Trainingstag zufrieden. Mit der siebtschnellsten Runde lag der Haas-Pilot direkt hinter Verstappen. "Das kam ein bisschen unerwartet", gab der Rheinländer zu. Sein Verdacht: "Da haben wohl einige Leute keinen ernsthaften Qualifikationsversuch unternommen." Zumal sich Haas in der ersten Trainingssitzung komplett auf ein Programm mit vollen Tanks konzentriert hatte.
Im Longrun reihte sich Hülkenberg im Bereich von Lance Stroll und Valtteri Bottas ein. Sechs Fahrer waren in ihren Rennsimulationen langsamer als Hülkenberg. Daran war im letzten Jahr gar nicht zu denken. Dabei war der Dauerlauf noch nicht einmal optimal. Auf Wunsch des Teams ging Hülkenberg seinen 12-Runden-Stint etwas forscher an als sonst. Die Ingenieure wollten herausfinden, welche Auswirkungen das auf das Leben des Reifens an. Das Ergebnis war, dass man es am Sonntag zu Beginn des Stints etwas ruhiger angehen lässt. Trotzdem resümierte Kevin Magnussen: "Wir befinden uns bei der Reifenabnutzung auf dem richtigen Weg."
Sind die Alpine wirklich so schlecht?
Alpine landete mit seinen schnellsten Runden auf den Plätzen 16 und 18, in der Longrun-Rangliste auf den Rängen 16 und 19. Das war erwartet. Der wunde Punkt der Alpine ist die Traktion. Damit hat man auf der Strecke in Bahrain ein Problem. An sechs Stellen kommt es auf eine gute Beschleunigung aus langsamen Kurven an.
Die zweite Schwachstelle des Alpine A524 ist das Gewicht. Das neue Auto ist noch zehn Kilogramm zu schwer. Technikchef Matt Harman verspricht beim Gewicht eine schnelle Abhilfe. Das Problem mit der Traktion wird Alpine länger beschäftigen, aber nicht immer so hart strafen wie in Bahrain. Schon beim zweiten Rennen in Jeddah kommt es auf andere Qualitäten an.
Esteban Ocon zog trotz der Probleme ein versöhnliches Fazit: "Wir scheinen im Longrun etwas konkurrenzfähiger als auf eine Runde zu sein. Und unser Auto geht bei niedrigen Temperaturen besser als bei hohen."