Warum war McLaren so überlegen?
Der Grand Prix von Singapur wurde zur Machtdemonstration von McLaren. In Runde 53 hatte Lando Norris bereits 29,1 Sekunden Vorsprung vor Max Verstappen herausgefahren. Doch nach zwei Schreckmomenten kam die Anweisung vom Kommandostand, Tempo rauszunehmen und den Sieg nach Hause zu bringen. In Runde 29 hatte Norris bei einem Verbremser in Kurve 14 die Bande mit dem Frontflügel gestreift. 16 Runden später holte der Spitzenreiter vor Kurve 10 etwas zu weit aus und berührte mit der Felge die Mauer an der Außenseite.
Nach viel Pech in Monza und Baku hatte der WM-Zweite in Singapur das Glück auf seiner Seite. Die Fehler wurden nicht bestraft. Den Sieg hatte an diesem Tag auch kein anderer Fahrer verdient. In der Anfangsphase nahm Norris seinen direkten Verfolgern teilweise mehr als eine Sekunde pro Runde ab. Wenn man bedenkt, dass McLaren seit dem Miami-GP keine großen Upgrades mehr gebracht hat, musste man sich schon wundern, wo die Performance herkam.
"Auf diesen Strecken, die viel Abtrieb verlangen, fühlen wir uns besonders wohl", erklärte Teamchef Andrea Stella die McLaren-Show. "Das Auto ist in dieser Konfiguration sehr stark. Das haben wir schon in Budapest und Zandvoort gesehen. Auf Strecken, bei denen wenig Luftwiderstand gefragt ist, sind Ferrari und Red Bull näher dran. Wir haben bei der Entwicklung mehr in dieses Paket investiert als in die Low-Downforce-Konfiguration, obwohl wir uns auch da verbessert haben."
Red Bull wusste schon vor dem Wochenende, dass es in Singapur wohl nur um Schadensbegrenzung geht. Wellige Stadtkurse schmecken dem RB20 gar nicht. Im Training am Freitag sah es nach einer richtig bösen Klatsche aus. Erst der Umbau des Fahrwerks von hoch und weich auf tief und hart brachte Verstappen überhaupt in die Lage, aufs Podium zu fahren.
In Austin hofft Red Bull, mit einem großen Upgrade-Paket zurückzuschlagen. "Die Lücke ist leider riesig. Das wird nicht einfach, das aufzuholen", gab Teamchef Christian Horner zu bedenken. "In dieser Form ist McLaren unschlagbar. Als Lando den Befehl bekam, er soll den Vorsprung auf Max auf fünf Sekunden ausbauen, wurde das in nur drei Runden umgesetzt."
Auch McLaren hat angekündigt, direkt nach der Herbstpause noch einmal nachzulegen. Stella ist sich allerdings bewusst, dass der Umbau nicht ohne Risiko ist. Die vielen fehlgeschlagenen Upgrades der Konkurrenz in dieser Saison nimmt der Italiener als Warnung: "Wenn man so überlegen ist, dann geht man bei der Weiterentwicklung etwas vorsichtiger zu Werke. Wir müssen aber unseren Prozessen vertrauen. In der Formel 1 darf man das Tempo nicht rausnehmen, sonst holen die anderen auf."
Wie schnell hätte Ferrari gekonnt?
Laut Stella konnte McLaren im Rennen auch deshalb glänzen, weil sich Ferrari nach dem verkorksten Qualifying früh aus dem Podiumskampf verabschiedet hatte. "Im letzten Stint hat Leclerc angedeutet, was möglich gewesen wäre", warnt der italienische Ingenieur. Der Blick auf die Rundenzeiten zeigt, dass der Ferrari bei freier Fahrt auf einem ähnlichen Niveau unterwegs war wie Norris. Die Frage lautet nur, wie weit der Sieger sein Tempo absichtlich gedrosselt hatte.
Laut Teamchef Frederic Vasseur hätte man von besseren Startplätzen zumindest Verstappen schlagen können. Doch in der dritten Runde der Qualifikation nahm das verheißungsvolle Wochenende eine dramatische Wende für die Scuderia. Carlos Sainz hämmerte sein Sportgerät am Ende der Aufwärmrunde in die Zielkurvenbande. Auch Leclerc blieb ohne Zeit, weil er beim Anbremsen von Kurve 1 ein paar Zentimeter neben den Streckenrand rutschte.
"Wenn dieses Wochenende etwas schlecht gelaufen ist, dann war das nicht der Freitag oder der Sonntag, sondern mittendrin", bedauerte Vasseur. "Bis zum Q2 konnten wir die Pace mit Lando mitgehen. Im Q3 haben wir dann leider keine Runde zustande bekommen." Aus den Startplätzen neun und zehn wurden am Ende die Plätze fünf und sieben. "Vielleicht hätten wir George (Russell) noch einholen können, aber viel mehr ging mit der Ausgangslage nicht."
Warum ist Hamilton auf Softs gestartet?
Nach dem Rennen herrschte Katerstimmung im Mercedes-Lager. Die Fahrer ließen sich bei den Presseterminen entschuldigen. "Beide haben unter Überhitzung gelitten und mussten ins Eisbad", verriet Teamchef Toto Wolff. Die Leistung für das Silberpfeilteam konnte man ebenfalls als kalte Dusche bezeichnen. Nach einem ordentlichen Qualifying ging es im Rennen rückwärts.
"Das war ein schmerzhafter Abend", gab Wolff zu. "Wenn man auf den Plätzen zwei und drei startet und dann Vierter und Sechster wird, dann ist das nicht gut. Wir haben Probleme mit Strecken, auf denen es heiß ist und die eine gute Traktion verlangen. Das war in Baku auch schon so. Wenn man eine Minute auf den Sieger verliert, dann ist das schwer zu akzeptieren."
Lewis Hamilton verabschiedete sich früh aus dem Kampf um die Podiumsplätze. Der Rekordsieger startete mit Soft-Reifen, musste dann aber schon in Runde 17 an die Box und fiel in den Verkehr. Wolff entschuldigte sich bei seinem Piloten. "Wir haben das Rennen falsch gelesen. In der Vergangenheit wurde der Singapur Grand Prix oft zu einer langsamen Prozession. Da hatten wir mit dem Soft-Reifen auf einen Vorteil am Start gehofft. Das war aber die falsche Entscheidung. Mit unserem hohen Verschleiß auf der Hinterachse konnte es nur rückwärtsgehen."
Hätte Hülkenberg Alonso schlagen können?
Für Haas sah es lange Zeit nach fetten Punkten aus. Nico Hülkenberg geigte im ersten Stint munter auf Platz sechs zwischen den Topteams herum. Dass die beiden Ferrari mit dem deutlich besseren Speed irgendwann vorbeiziehen werden, war abzusehen. Doch zum Ärger des Deutschen mogelte sich auch noch Fernando Alonso durch, obwohl der Aston Martin eigentlich keinen großen Pace-Vorteil hatte.
"Wir haben den achten Platz nur Fernando und einer guten Strategie zu verdanken", gab Teamchef Mike Krack zu. "Das Auto war eigentlich nicht schnell genug." In Runde 25 wurde der Spanier zum Pflichtstopp reingeholt. Der Undercut gegen Hülkenberg funktionierte. Haas hielt den Rheinländer anschließend noch vier Runden draußen, damit er nach dem Stopp mit frischeren Reifen einen Konter starten kann.
Hülkenberg fuhr die Lücke dann auch wie erwartet schnell zu. "Dann waren aber meine Hinterreifen auch schon am Ende." Es blieb nur noch die Aufgabe, Platz neun abzusichern. Hinter Hülk machte Perez ordentlich Druck. "Er hatte aber keine richtige Chance zum Angriff. Mit diesen Autos auf dieser Strecke ist es schwierig vorbeizukommen." Die zwei WM-Punkte von Singapur reichten immerhin, um sich vor Lance Stroll in die Top Ten der Fahrerwertung zu schieben.
Warum gab es Ärger um die schnellste Rennrunde?
An einem ansonsten enttäuschenden letzten Rennwochenende gab es für Daniel Ricciardo zum Ende noch einen Höhepunkt. "Mein Ingenieur hat mich gefragt, ob ich nochmal neue Soft-Reifen holen will, um die schnellste Runde zu attackieren. Da habe ich nicht nein gesagt", berichtete der Australier. Die Aktion hatte Erfolg. Der 35-Jährige unterbot die Vorgabe von Lando Norris um eine halbe Sekunde. Dem Titelanwärter klaute Ricciardo damit den Bonuspunkt.
Bei McLaren stieß die Aktion nicht gerade auf Begeisterung: "Ich dachte eigentlich, dass nach dem Reglement nicht ein Team mit dem anderen zusammenarbeiten darf", klagte Firmenboss Zak Brown. Andrea Stella betonte zwar, dass er Toro Rosso keinen Vorwurf machen will. Er fügte aber an: "Es ist eine Team-Meisterschaft und keine Koalitions-Meisterschaft."
Max Verstappen bedankte sich artig für die Unterstützung seines Ex-Teamkollegen im Meisterkampf. Die Toro-Rosso-Bosse dementierten allerdings, dass es sich um einen Gefallen für das Schwesterteam handelte. Laurent Mekies behauptete, dass man Ricciardo nur einen gebührenden Abschied verschaffen wollte – falls es denn zum erwarteten Fahrertausch kommen sollte.
Wer die Szenen im Toro-Rosso-Lager beobachtete, konnte daran aber keinen Zweifel haben. Ricciardo wurde bei seiner Rückkehr in den Pavillon mit großem Applaus begrüßt. Von den Fans gab es auch noch die Wahl zum Fahrer des Tages. "Das Märchen ist leider nicht wahr geworden", erklärte der achtfache GP-Sieger zum Abschied. "Aber ich kann mit Stolz auf meine Karriere zurückblicken."