Baku war ein einfaches Rennen für die Strategen. Das einzige Fragezeichen lag darin, ob die Reifen bei dem frühen Safety-Car-Einsatz und der langen Restdistanz bis zum Ende durchhalten würden. In einigen Teams wurde in der zweiten Rennhälfte über Plan B gesprochen. Es blieb bei Plan A.
Der Weg zum Sieg war ein Einstopp-Rennen. Für 13 der 18 Fahrer im Ziel mit der Reifenfolge Medium-Hart. Dabei spielte es auch keine Rolle, ob die Reifen alt oder angefahren waren. Fernando Alonso und Lance Stroll wurden ganz bewusst mit Reifen ins Rennen geschickt, die schon Sprint-Shootout-Kilometer auf der Lauffläche hatten. Aston Martins Reifenguru ist bereits seit Jahren der Meinung, dass sich damit das Körnen besser umgehen lässt. Das Ergebnis gibt ihm Recht. Alonso wurde Vierter, Stroll Siebter.
Das Safety-Car, das durch den Mauertreffer von Nyck de Vries ausgelöst wurde, gab acht Fahrern das Signal zum Gratis-Reifenwechsel. Max Verstappen, Lewis Hamilton, Lando Norris, Yuki Tsunoda, Oscar Piastri, Alexander Albon, Logan Sargeant, Pierre Gasly und Valtteri Bottas hatten den Boxenstopp unglücklicherweise schon bei Renntempo abgespult.
Am meisten bezahlte Verstappen. Er verlor die Führung und damit das Rennen. Red Bull glaubte nicht an ein Safety-Car. Und Verstappen stand unter Druck, weil Sergio Perez seine Medium-Reifen besser behandelt hatte als sein Stallrivale. Da er ihm schon im DRS-Fenster hing, sah das Team sein Heil in der Flucht nach vorne. Mit Verstappens Boxenstopp ging man einer internen Konfrontation auf der Strecke aus dem Weg.
Das Team hätte allerdings erkennen müssen, dass bei de Vries das linke Vorderrad abgeknickt war, was die Chance auf ein Safety-Car erhöhte. Hätte Red Bull nur eine Runde länger gewartet, wäre es wie bei Ferrari und Aston Martin zum Doppelstopp gekommen. Und Verstappen hätte die Führung behalten.
Verstappen mit mehr Reifenverschleiß
Verstappen hatte auch im zweiten Teil des Rennens die höhere Reifenabnutzung. Das lag zum einen daran, dass die Reifen beim Fahren in den Turbulenzen eines anderen Fahrzeugs immer stärker leiden. Und dass der Weltmeister mit der Balance seines Autos nicht zufrieden war. Mal monierte er Untersteuern, mal Übersteuern. Das ging erst weg, als er alle möglichen Schalter am Lenkrad verstellt hatte.
Auch bei Hamilton gab der Reifenverschleiß den Ausschlag für den frühen Boxenstopp in Runde 9. "Die Hinterreifen waren zu heiß. Lewis fuhr im Verkehr hinter Sainz und bekam Druck von Alonso", erklärten die Mercedes-Strategen. Um einem Undercut vorzubeugen, holte man den Rekordsieger lieber an die Box. Das Opfer war ein Platzverlust. Alonso kam durch den Boxenstopp in der Neutralisation vorbei.
Red Bull fährt an der Spitze weiter sein eigenes Rennen. Das wurde schon im Sprint deutlich, als Perez seinem Verfolger Charles Leclerc in nur 17 Runden 4,4 Sekunden abnahm. Auf eine schnelle Quali-Runde kann Ferrari den Red Bull gefährlich werden. Doch auf die Distanz fehlt dem SF-23 aerodynamische Stabilität. Und das geht auf die Reifen. Über die Renndistanz verlor Leclerc 21 Sekunden auf den Sieger.
Nur Red Bull kann DRS nutzen
Ferrari hat im Reifenmanagement aber etwas gelernt. Man weiß jetzt besser, wie man die Pirelli zu Beginn des Stints behandeln muss, dass sie am Ende noch am Leben sind. Hätten alle frei fahren können, wäre der Aston Martin vielleicht das schnellere Auto gewesen, doch kaum hatte Fernando Alonso die Lücke zu Leclerc geschlossen, musste er auch schon wieder Abstand lassen. "In den Turbulenzen bin ich ein paar Mal fast abgeflogen. Das hätte mir auf Dauer die Reifen ruiniert."
Ferrari, Aston Martin und Mercedes haben sich im Renntrim fast neutralisiert. "Es ist in dieser Gruppe schwer zu sagen, wer der schnellere war. Wenn du im Verkehr festgesteckt bist, war es das. Keiner von uns hat ein DRS, das so mächtig ist wie das von Red Bull. Nur ein Auto konnte auf der Zielgerade den DRS-Vorteil wirklich ausspielen", bilanzierte Mercedes-Teamchef Toto Wolff.
Das führte zu einer Prozession, die dem vierten Rennen des Jahres viel Kritik einbrachte. Dem neuen Sprint-Format konnte man höchstens den Vorwurf machen, dass die Teams früh Anschauungsunterricht bekamen, was später passieren würde. Zwar gelang es keinem in nur 60 Minuten Training das Auto optimal abzustimmen, doch diese Unterschiede reichten nicht aus, die übliche Hackordnung durcheinander zu würfeln.
Poker von Norris und Tsunoda
So war der Sprint-Shootout eine Kopie der Qualifikation. Wer auf Soft-Reifen ein schnelles Auto hatte, hatte es auch auf den Medium-Gummis in den Samstags-K.O.-Runden. Und wer im Sprint feststellte, dass ihm die Reifen eingehen, der konnte sich zu Gegenmaßnahmen in beschränktem Ausmaß oder einem radikalen Schritt wie Esteban Ocon oder Nico Hülkenberg entschließen, das Setup zu ändern und aus der Box zu starten.
Das Bild am Sonntag war wenig überraschend das gleiche wie das am Samstag. Die acht Fahrer der vier Topteams kamen in allen vier Prüfungen in die Top Ten. Mit Lando Norris und Yuki Tsunoda belohnten sich zwei Fahrer mit Punkten, deren Teams sich auf einen Poker einließen. Sie verfeuerten in der Freitags-Qualifikation sämtliche Soft-Garnituren und verzichteten im Sprint-Shootout freiwillig auf eine SQ3-Teilnahme, weil ihnen der Startplatz fürs Hauptrennen wichtiger war als für den Sprint, in den nur die Top 8 punkten können. Diese Taktik wird Schule machen.
In der so genannten dritten Division fuhren Ocon und Hülkenberg gewissermaßen als Geisterfahrer mit. Sie gingen aus der Boxengasse antizyklisch auf harten Reifen ins Rennen und mussten auf ein spätes Saftey-Car oder eine rote Flagge kurz vor Schluss hoffen. Ideal wäre alles zwischen Runde 25 und 48 gewesen. Dann hätten sie ihre Plätze 9 und 10 mit frischen Reifen verteidigen können. So warf sie der Pflichtboxenstopp in den letzten Runden ans Ende des Feldes.
Der Sprint hatte auch allen gezeigt, dass Pirellis weichste Mischung ein für den Sonntag unbrauchbarer Reifen war. Lando Norris brach mit ihm im Sprint komplett ein. Trotzdem spielte der Soft-Gummi am Sonntag noch eine Rolle. George Russell bekam ihn zwei Runden vor Schluss mit auf eine kurze Reise. Die Lücke zu Platz 9 war mit 28 Sekunden groß genug. Es lohnte sich. Russell holte sich den Extra-Punkt der schnellsten Runde, der vorher Verstappen gehörte.