Singapur-Rennen laufen oft nach dem gleichen Schema ab. Wenn der Spitzenreiter Angst um seine Reifen und schnellere Autos im Getriebe hat, dann wird der Grand Prix eine Bummelfahrt. Die garantiert den Reifen ein langes Leben und verhindert Lücken im Feld, die für Fahrer mit Undercuts zum Landeplatz werden könnten.
Die 14. Ausgabe des GP Singapur war genau so ein Rennen. Ferrari hatte kein Interesse an einem hohen Tempo. Also wurde langsam gefahren. So langsam, dass nach 15 Runden die Top 17 immer noch innerhalb von nur 24 Sekunden lagen und noch nicht einmal die Haas-Piloten Probleme mit dem Reifenverschleiß bekamen. Carlos Sainz konnte dem Feld sein Tempo ohne Mühe aufzwingen, weil er hinter sich Teamkollege Charles Leclerc als Absicherung hatte.
Das wäre vermutlich ewig so weitergegangen, hätte nicht Logan Sargeant in der 19. Runde die Mauer berührt und Trümmerteile über die Strecke verstreut. Prompt schickte die Rennleitung das Safety Car auf die Strecke. Es kam für alle zu früh. Für die Fahrer, die auf Medium-Reifen gestartet waren, weil die Restdistanz auf der harten Mischung jetzt 42 Runden betrug. Und für Red Bull, weil sich der Start mit den harten Reifen nicht auszahlte.
Medium-Reifen hätte bis Runde 40 überlebt
Max Verstappen und Sergio Perez waren gezwungen, auf der Strecke zu bleiben und auf den geschenkten Boxenstopp zu verzichten. Das brachte Verstappen und Perez zwar auf die Plätze 2 und 4, doch jetzt traten sie mit alten harten Reifen gegen eine Meute auf 20 Runden jüngeren Sohlen an. Und ihr Vorteil, strategisch flexibler zu sein, war dahin. Sie würden nach ihrem Boxenstopp nur noch von der weicheren Medium-Mischung profitieren.
Wie langsam die Fahrt im ersten Stint war, zeigte der Zustand der Medium-Reifen nach 20 Runden. "Es war an den Hinterreifen nur 20 Prozent der Gummischicht verbraucht. Bei dem Tempo wären wir locker 40 Runden weit gekommen. Normalerweise hatten wir die Lebensdauer auf 25 Runden geschätzt", berichteten die Mercedes-Strategen.
Der Massenansturm an die Boxen drehte die Uhren wieder zum Start zurück. Carlos Sainz hatte die gleiche Aufgabe wie im ersten Stint. So schnell wie möglich langsam fahren. Nur dass im Rückspiegel nicht mehr Leclerc lag, sondern George Russell. Und der Mercedes-Pilot hatte keinerlei Interesse an der Verzögerungstaktik.
Ganz im Gegenteil. Mercedes war daran interessiert, dass im Feld Lücken entstehen. Man merkte aber schnell, dass man den Ferrari trotz DRS-Vorteil mit gleich alten Reifen auf den Geraden nicht knacken konnte. Das Überhol-Delta war mit 1,4 Sekunden nach Monte Carlo das höchste des ganzen Jahres.
Mercedes mit einer Trumpfkarte
George Russell und Lewis Hamilton hatten als einzige im Feld eine zweite Garnitur neuer Medium-Reifen in der Hinterhand. Diese Trumpfkarte würde stechen, wenn sich die Gelegenheit ergab, sie ohne große Verluste ins Spiel zu bringen. Dazu brauchte Mercedes ein auseinandergerissenes Feld und ein echtes oder virtuelles Safety Car. Danach sah es zunächst nicht aus, da Sainz sein Spiel eisern fortsetzte.
Jetzt wurde ausgerechnet Red Bull zum Mitspieler für Mercedes. Nach dem Re-Start blieben die Temperaturen der alten harten Reifen im Keller. Verstappen und Perez wurden im Schnelldurchgang nach hinten durchgereicht. Bis sie auf Platz 6 und 7 endlich Halt fanden.
Die Red-Bull-Piloten waren langsam genug, dass zu den Top 5 eine Lücke entstand und zu schnell für eine Gruppe mit Fernando Alonso, Esteban Ocon, Kevin Magnussen, Pierre Gasly und Oscar Piastri, die im Schlepptau der Red Bull immer mehr den Kontakt zur Spitze verlor.
Genau das war der Platz im Feld, den der Mercedes-Kommandostand suchte. "Unser Anhaltspunkt war Perez und die Gruppe dahinter. Ab dem Zeitpunkt, an dem wir nach einem Boxenstopp vor ihn herauskommen würden, hätten wir die Gelegenheit für einen zweiten Reifenwechsel wahrgenommen."
Das Boxenstopp-Fenster zu Perez
Natürlich nur im Falle einer Neutralisation. Bei einer VSC-Phase schrumpfte das Boxenstopp-Fenster von 28 auf 14 Sekunden. Das war für Russell in Runde 35, für Hamilton etwas später erreicht. Als die Red Bull in den Runden 39 und 40 ihre Boxenstopps abwickelten, war klar, dass Mercedes seine Taktik mit beiden Autos fährt, wenn sich die Gelegenheit dazu ergäbe.
Und die kam in der 44. Runde, als der liegengebliebene Alpine von Esteban Ocon eine VSC-Phase auslöste. Russell und Hamilton rutschten von den Rängen 2 und 4 auf die Plätze 4 und 5. Der Schaden war also gering. Ein Split der Taktik machte da schon keinen Sinn mehr, auch wenn Hamilton hinterher einwarf. "Wäre ich statt George Zweiter gewesen, wäre ich lieber draußengeblieben und hätte erstmal Platz zwei abgesichert. Aber für eine Siegchance mussten wir dieses Risiko nehmen."
17 Runden vor Schluss betrug der Rückstand des Mercedes-Duos auf die Spitze 17,6 und 21,9 Sekunden. Zunächst lag der Zeitvorteil der frischen Medium-Reifen bei 1,5 Sekunden. Er schrumpfte bis zum Schluss auf ein Drittel.
Der zurückgefallene Leclerc wurde von den Mercedes-Piloten nahezu inhaliert. Leclerc hatte nach dem Re-Start ein paar Plätze verloren und beim Versuch, die wieder zurückzuholen, seine Reifen überfordert. Fünf Runden vor Schluss fanden die Mercedes-Fahrer Anschluss an die Spitze.
Sainz nutzt Norris
Noch stimmte der Fahrplan, doch dann machte ihn Carlos Sainz mit seinem zweiten Schachzug zunichte. Statt zu flüchten, hielt der Spanier Lando Norris in seinem DRS-Fenster. Dann hatte er noch das Glück, dass Russells erster Angriff auf den McLaren in Kurve 17 misslang. Das nahm den Reifen am Mercedes noch ein bisschen Energie.
Trotzdem ließ sich Sainz nicht nervös machen, sondern wartete darauf, dass Norris wieder in den Einsekunden-Bereich zu ihm zurückfand, weil er den Geleitschutz gegen die Mercedes, die da im Doppelpack anstürmten, zum Überleben brauchte.
Die Mercedes-Strategen sind sicher: "Hätte Norris nicht DRS gehabt, wäre es ein Doppelsieg für uns geworden." Norris stimmte zu: "Die Mercedes-Strategie war um Welten schneller."
Bei Alonso läuft alles schief
Das Herzschlagfinale mit vier Autos innerhalb von 1,8 Sekunden vor der letzten Runde verstellte den Zuschauern den Blick, was weiter hinten im Feld passierte. Und das war ähnlich spannend.
Alonso hatte sich in seinen vielen erfolglosen Versuchen, Perez zu knacken, die Reifen ruiniert. Sein Aston Martin war außerdem nach der Startrunde lädiert, was Abtrieb und Reifengummi kostete. Als ihn die Alpine bedrängten fuhr die Verzweiflung mit.
Zusammen mit den Mercedes die VSC-Phase zum zweiten Stopp zu nutzen und mit weichen Reifen zu Ende zu fahren, machte nicht wirklich Sinn. So musste Alonso seine Fünfsekunden-Strafe für das Überfahren der weißen Linie an der Boxenausfahrt im Rennen absitzen. Das kostet mehr Zeit als sie am Ende zu nehmen.
Alonso wäre selbst bei perfektem Verlauf hinter Verstappen auf Platz 6 ins Ziel gekommen. Ein 25,3 Sekunden Stopp besiegelte endgültig Alonsos Schicksal: "Heute ging schief, was schiefgehen konnte."
Haas verpasst Chance mit Hülk
Dahinter herrschte Chaos, und das half am Ende den Red-Bull-Piloten. Als endlich Renntempo gefahren wurde, stieg die Reifenabnutzung. Und die brachte in den letzten Runden einige Fahrer in ernste Schwierigkeiten. Sechs Runden vor Schluss lagen Lawson, Albon, Perez, Hülkenberg, Zhou und Magnussen auf den Plätzen 8 bis 13. Im Ziel hieß die Reihenfolge Perez, Lawson, Magnussen, Albon, Zhou und Hülkenberg.
Albon und Magnussen profitierten von einem zweiten Boxenstopp in Runde 43. Am Ende war sogar der gebrauchte Soft-Gummi von Magnussen um Welten besser als die ausgelutschten harten Reifen seiner Gegner. Albon landete nur deshalb nicht auf Rang 8, weil sich Perez mit Feindkontakt gegen ihn durchboxte, was den Williams-Piloten auf einen Schlag vier Positionen kostete.
Nico Hülkenberg ärgerte sich. Er lag zu dem Zeitpunkt, als sein Teamkollege zum zweiten Mal Reifen tauschte, acht Sekunden vor Magnussen. "Hätte man mich auch an die Box geholt, hätte ich weiter vorne landen können." Acht Sekunden vor Magnussen hätte sogar noch für Platz 9 vor Liam Lawson gereicht.