George Russell im Interview: "Spa zählt wie ein Sieg"

George Russell im Interview
„Spa zählt wie ein Sieg für mich“

George Russell verrät im Interview mit auto motor und sport, warum Spa für ihn wie ein Sieg zählt, warum der Mercedes wieder ein Siegerauto geworden ist und wie er seinen neuen Teamkollegen Andrea Kimi Antonelli sieht.

George Russell - GP Italien 2024
Foto: Wilhelm

War der aberkannte Sieg von Spa ihr größtes Rennen?

Russell: Auf jeden Fall, aus einer Reihe von Gründen. Ich habe meinem Bauchgefühl vertraut, dass ich den zweiten Reifensatz über die Runden bringe. Ich habe die Reifen an den Stellen geschont, wo ich musste, und habe dort attackiert, wo es den Reifen nichts ausmachte. Vier Kurven hatten noch den alten aggressiven Asphalt. Da musste ich vorsichtig sein, in Linkskurven mehr als in Rechtskurven. Es fühlte sich an, als säße ich im Simulator. Im Rückspiegel habe ich keine Autos gesehen und vor mir auch nicht. Das passiert ganz selten. Es waren nicht mal überrundete Autos da.

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Wann waren Sie sich sicher, dass Sie nicht mehr eingeholt werden?

Russell: Auf den beiden großen Videowänden an der Strecke konnte ich Runde für Runde meinen Vorsprung auf Lewis, Leclerc und Piastri beobachten. Ich habe jede Runde gerechnet. Zehn Runden vor Schluss hatte ich 13 Sekunden Luft, und sie haben sieben Zehntel pro Runde aufgeholt. Da wusste ich: Wenn sie mich einholen, dann erst ganz zum Schluss. Und Überholen war diesmal schwerer als sonst. Das gab mir Zuversicht. Als ich die Zielflagge sah, war es ein unbeschreibliches Gefühl. Mal ehrlich: Für mich zählt dieses Rennen wie ein Sieg, auch wenn man ihn mir weggenommen hat. Ich war Erster über die Ziellinie. Ich habe auf dem Podest gestanden und mit meinem Team gefeiert. Alles das, was man bei einem richtigen Sieg auch macht.

Wie groß war die Enttäuschung nach der Disqualifikation?

Russell: Sie hielt sich in Grenzen. Ich kämpfe dieses Jahr nicht um den Titel. Die 25 Punkte, die ich verloren habe, kosten mich am Ende vielleicht den dritten oder vierten Platz in der WM, aber ich fahre nicht Rennen, um Dritter oder Vierter zu werden. Wenn es noch um die WM gegangen wäre, hätte mich diese Disqualifikation länger verfolgt. Zusammen mit dem Defekt in Silverstone habe ich schon 40 Punkte liegengelassen.

George Russell - GP Belgien 2024
xpb

George Russell fühlt sich immer noch als Sieger des Belgien-GPs.

Wann war der Frust verdaut?

Russell: Ziemlich schnell. Es half, dass ich gleich am nächsten Tag mit meiner Freundin, meiner Schwester, meinem Schwager und deren frisch geborenem Kind in den Urlaub gegangen bin. Ich bin jetzt ein Onkel. Da konnte ich mich leicht aus der Formel 1-Welt ausklinken.

Wann haben Sie den Pokal an Lewis übergeben?

Russell: Habe ich nicht gemacht. Ich weiß gar nicht, wo er jetzt ist. Ich habe schon 25 Minuten nach Ende des Rennens erfahren, dass es mit dem Auto ein Problem gibt. Deshalb habe ich den Pokal gar nicht mitgenommen.

Hätte Sie eine volle Ehrenrunde zum Aufsammeln von Reifenschnipseln gerettet?

Russell: Ich glaube schon. Das ist eine Prozedur, die machst du schon im Kart. Der Reifensatz von mir hat über ein Kilogramm weniger gewogen als der von Lewis. Wir hatten noch nie einen so großen Unterschied. Ich war 500 Gramm leichter als mein übliches Kampfgewicht. Und die Planke unter meinem Auto hatte sich mehr abgenutzt, was auch ein paar hundert Gramm ausgemacht hat. Diese drei Faktoren führten zu dem Untergewicht. Ein Reifen mit Pickup wiegt locker mal 400 Gramm mehr. Bei vier Reifen hätte das schon gereicht.

Wir haben jetzt schon ein paar Mal erlebt, dass Einstopp-Strategien zum Erfolg führten, obwohl man sie eigentlich nicht für machbar hielt. Ist das eine Lektion für die Zukunft?

Russell: Ich glaube, dass man während des Rennens noch mehr die Umstände prüfen und notfalls darauf reagieren muss. In Spa herrschte am Renntag plötzlich starker Rückenwind auf der langen Gerade. Das hat das Überholen sehr schwer gemacht. Da muss seine Strategie anpassen. Auch die Strecke selbst spielt eine Rolle. Mit den kleinen Flügeln in Spa hat dir das DRS zweieinhalb Zehntel geschenkt. In Barcelona wären es sechs Zehntel gewesen. Meine Taktik von Spa wäre in Barcelona nie aufgegangen.

George Russell - GP Belgien 2024
Motorsport Images

Bei Mercedes will man jetzt die Früchte von zweieinhalb Jahren harter Arbeit ernten.

Vier Autos können einen Grand Prix gewinnen. Ein Fehler am Freitag kann am Sonntag den Sieg kosten. Fahrt das im Hinterkopf mit?

Russell: Das kleinste Detail kann einen riesigen Unterschied ausmachen. Samstag wie Sonntag. Die letzten beiden Jahre wäre es egal gewesen, ob wir uns zwei Zehntel schneller oder langsamer qualifizieren. Der Startplatz wäre der gleiche gewesen. Heute sind das fünf Startplätze Unterschied. In Zandvoort haben wir einen Fehler mit dem Setup gemacht. Das wurde uns erst hinterher klar. Deshalb sind wir im Nirgendwo gelandet. Aber so sollte Rennsport sein. So war es im Kart, in der Formel 3 und Formel 2.

Kann der Mercedes auf jeder Strecke gewinnen?

Russell: Wir haben uns in Spa selbst überrascht, dafür haben wir in Zandvoort weniger gezeigt, als wir können. In Monza waren wir stark auf eine Runde, aber uns fehlte der Speed im Rennen. Wir tun uns immer noch schwer zu verstehen, warum wir schnell sind oder nicht. Die großen Ausschläge aber sind nicht mehr da. Den anderen geht es aber auch nicht besser. Ich denke aber McLaren hat noch die Nase leicht vorne.

Was muss am Auto noch besser werden?

Russell: Wir haben mehr zu kämpfen, wenn die Hinterreifen stark gefordert sind. Das verstärkt sich, je heißer es ist. Dann leidet die Traktion. Das Problem ist nicht ganz einfach zu verstehen. Unsere Vorhersagen treffen in der Realität zu. Wir wissen, was wir abhängig von der Temperatur gewinnen oder verlieren. Doch es bringt uns nichts, uns mit uns selbst zu vergleichen. Wir verlieren relativ zur Konkurrenz mehr, wenn es heiß ist. Die Frage lautet: Sind unsere Gegner bei Hitze speziell gut oder sind wir nicht gut genug. Das Gleiche trifft auf kühlere Bedingungen zu. Entweder sind wir da besonders stark oder die anderen im Vergleich zu uns schlecht. Und genau das sind die Kleinigkeiten, die riesige Auswirkungen haben können.

George Russell - Mercedes - GP Österreich 2024
Wilhelm

Den Sieg in Österreich hatte Russell etwas glücklich abgestaubt.

Hamilton und Sie haben das aktuelle Auto von Anfang gelobt, obwohl Red Bull zu Saisonbeginn wie im Vorjahr dominiert hat. Was gab Ihnen die Zuversicht, dass man aus dem W15 ein Siegerauto machen kann?

Russell: Die letzten zwei Jahre hatten wir ein Auto, das extrem launisch war. Wenn wir in den Kurven ans Limit gegangen sind, begann das Heck am Kurveneingang zu rutschen. Egal, welche Fahrzeugabstimmung, wir konnten dieses Problem einfach nicht aus der Welt schaffen. Als wir das aktuelle Auto zum ersten Mal in Bahrain getestet haben, wurden wir mit dem entgegengesetzten Fahrverhalten konfrontiert. Aber wir wussten, dass wir dieses Problem viel einfacher und schneller lösen können. Das war für uns die Wende. Deshalb haben die Upgrades auch angeschlagen. Jede Änderung brachte das Auto in ein besseres Fenster. Das alte Problem steckte quasi in der DNA des Chassis und ließ sich deshalb nicht vertreiben.

Die letzten beiden Jahre waren aus Ihrer Sicht wahrscheinlich enttäuschend. Haben Sie am Ende mehr aus den Schwierigkeiten gelernt?

Russell: Die letzten zwei Jahre sind wie im Flug vergangen, und ich habe das Gefühl, dass ich immer noch 15 bis 20 Jahre vor mir habe. Deshalb sehe ich es nicht als verlorene Zeit. Als Rennfahrer willst du immer ein perfektes Auto. Du lernst, dass das nicht möglich ist. Wenn du über lange Zeit Erfolg hast, glauben die Leute, das hält ewig. Das ist ein Trugschluss. Als Vettel vier Mal hintereinander Weltmeister wurde, konnte man sich nicht vorstellen, dass mal ein anderer gewinnt. Das Gleiche mit Lewis und jetzt vielleicht auch mit Max. Wenn die Saison nach der Sommerpause angefangen hätte, könnte keiner sagen, wer Weltmeister wird. Diese Wellenbewegungen liegen in der Natur dieses Sports.

Sie fahren nun schon im dritten Jahr auf Augenhöhe mit Lewis Hamilton. Hat es Sie überrascht, dass sie dauerhaft mit einem der besten Fahrer aller Zeiten mithalten können?

Russell: Ich hatte nie Zweifel, dass ich mit den Besten mithalten kann. Und ich habe auf diese Chance hingearbeitet. Ich bin in allen Junior-Kategorien Meister geworden. Die Resultate sprachen für sich selbst. Als ich mit Williams in die Formel 1 eingestiegen bin, habe ich über drei Jahre hinweg meine Teamkollegen in der Qualifikation, mit zwei Ausnahmen, immer geschlagen. Das war eine Bestätigung, aber kein Stoff für Schlagzeilen. Deshalb wollte ich die Gelegenheit haben, mich gegen Lewis zu behaupten, weil ich erst so zeigen konnte, was ich kann. Toto Wolff und Mercedes wussten es schon vorher. Sie brauchten diese Bestätigung nicht. Lewis ist ein kompletter Rennfahrer, und ich habe viel an seiner Seite gelernt. Aber ich wusste, dass ich vom puren Speed mit ihm mithalten kann.

George Russell - GP Belgien 2024
Wilhelm

Das Quali-Duell hat Russell dieses Jahr klar zu seinen Gunsten entschieden.

Dafür spricht auch das Qualifikationsduell, das mit 12:4 klar zu ihren Gunsten ausgeht.

Russell: Ich bin dieses Jahr richtig happy mit meinen Leistungen in der Qualifikation. Mental war ich noch nie so stark wie jetzt. Die Qualifikation ist reine Kopfsache. Jeder Fahrer in der Startaufstellung weiß, wie man schnell fährt. Doch es kommt darauf an, das im entscheidenden Moment zu zeigen. Du sitzt am Samstagnachmittag 45 Minuten in deinem Auto, und alles dreht sich um eine Runde im Q3. Du hast genau diese eine Runde, in der es um Alles oder Nichts geht. In der sich dein Wochenende entscheidet. Dann interessiert es keinen mehr wie schnell du im FP1, FP2, FP3, Q1 oder Q2 warst. Ich habe lange daran gearbeitet, dass ich im richtigen Moment meine optimale Leistung abrufe. Aber es ist immer extrem eng zwischen Lewis und mir. Es gibt nur noch eine Fahrerpaarung, die von der Rundenzeit noch dichter zusammen liegt.

Sie werden 2025 der Veteran und Teamkapitän bei Mercedes sein. Sind Sie bereit dafür?

Russell: Das ist der nächste Schritt auf meiner Reise. Ich bin dann vier Jahre im Team, acht oder neun Jahre Teil der Mercedes-Familie. Ich fühle mich in jeder Hinsicht bereit, 2025 um die Weltmeisterschaft zu kämpfen. Ich fühle mich auch bereit, zusammen mit dem Team jedes Rennen ein Stück besser zu sein, zu helfen, das Auto weiterzuentwickeln. Wir werden nächstes Jahr darauf aufbauen, was Lewis und ich in den letzten drei Jahren gesät haben.

Ihr neuer Teamkollege Andrea Kimi Antonelli steigt direkt in einem Topteam ein. Hat er es leichter oder schwerer als Sie, der bei Williams drei Jahre lernen durfte?

Russell: Wenn du ins kalte Wasser geworfen wirst, lernst du schneller. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass ich in meinem ersten Jahr an der Seite von Lewis mehr gelernt habe als in den drei Jahren bei Williams. Jeder Fahrer, der in seiner Karriere Meisterschaften gewonnen hat, ist schnell. Du kannst ihn schon im ersten Jahr in ein Topteam setzen, so wie Lewis einst bei McLaren. Ich bin mir sicher, dass Charles bei Ferrari oder Max bei Red Bull auch ohne die Saison Vorbereitung in einem kleineren Team einen guten Job gemacht hätten. Vielleicht auf Kosten des ein oder anderen Fehlers, aber das gehört dazu. Daraus wird Kimi lernen. Entweder man hat den Speed, oder man hat ihn nicht. Kimi hat ihn.