53 der 54 Podestplätze errangen Fahrer von Red Bull, Ferrari und Mercedes. Sie sind mit dem Podium in Imola die Ausnahme. Macht Sie das glücklich oder eher depressiv?
Norris: Wenn ich daran denke, macht es mich glücklich. Speziell die Art, wie ich es erreicht habe. Unter schwierigen Bedingungen mit einem tollen Qualifying, in einem Auto, das höchstens das fünft- oder sechstschnellste war. Ich habe das Gefühl, dass ich auf das Podest komme, sobald sich mir eine Chance dazu eröffnet – ob in dieser Saison oder den vergangenen. Im Hinterkopf schwirrt mir aber herum, dass ich dort gerne öfter stehen würde.
Die Hoffnung war, dass sich durch neue Regeln mehr im Feld bewegen würde. Das traf nicht ein.
Norris: Ich hatte nicht von uns erwartet, jedes Wochenende auf das Podest zu fahren. Aber unser Ziel war es, näher an den Topteams zu sein. Leider sind wir weiter weg.
Wie gehen Sie damit um?
Norris: Es ist frustrierend. Ich kann aber nicht viel dagegen tun. Es macht keinen Sinn, mich zu ärgern. Es kann im Sport passieren. Mercedes hatte nach dem Gewinn so vieler Weltmeisterschaften auch nicht erwartet, in diesem Jahr derart zu straucheln. Es gibt auch ein Leben abseits der Formel 1. Du musst einfach lernen, das Beste aus der Situation zu machen. Ein Podest in Imola. Ein vierter Platz in Singapur. Diese Ergebnisse sind wie große Siege für uns, weil wir nicht mehr erreichen können.
McLaren hatte einen sehr guten Wintertest in Barcelona. In Bahrain ging es rasend abwärts. Sie fuhren plötzlich am Ende des Feldes.
Norris: Das war ein Albtraum. Wir dachten nach Barcelona, dass wir gut dastehen. Unser Auto hatte auf Anhieb funktioniert. Wir hatten sofort ein Verständnis dafür, wie wir es zum Arbeiten bringen. Am Ende des Barcelona-Tests begannen wir bereits, unser Auto zu optimieren. Das ist sehr früh. Andere Teams hatten es anfangs schwerer, dafür aber mehr Luft für Fortschritte. Bis Bahrain hatten sie Zeit, ihre Autos besser zu verstehen. Wir hatten nicht mehr viel, was wir verändern konnten. Nach dem ersten Rennen haben wir gemerkt, wo wir tatsächlich stehen. Und wie weit weg wir wirklich weg sind. Das war schwer zu schlucken. Unsere Bremsprobleme hatten natürlich auch nicht geholfen. Aber selbst, wenn wir den perfekten Test gehabt hätten. Es hätte nicht viel verändert. Wir wären vielleicht etwas besser aufgestellt und hätten die Entwicklungsrichtung etwas früher verstanden.
Sind Sie zufrieden mit der Reaktion des Teams?
Norris: Ich hätte mir größere Schritte gewünscht. Wir lagen anfangs hinter vielen Teams zurück. Aber wir sind ziemlich schnell auf ein vernünftiges Level gekommen. Aber wir waren immer hinter Alpine. Die waren ab dem ersten Rennen sehr konkurrenzfähig. Wir waren höchstens bei zwei bis vier Rennen besser. Aber nur ein bisschen. Sie sind manchmal gleich fünf bis sieben Zehntel schneller. Ich würde mir wünschen, dass wir die Lücke schließen können. Dass wir gegen sie in der WM kämpfen, ist deshalb eine Überraschung. Wir sind dran, weil wir in anderen Bereichen gute Arbeit abliefern: bei den Boxenstopps, mit der Strategie, mit der Zuverlässigkeit.
Kann McLaren nur mithalten, weil Sie das Auto überfahren?
Norris: Ich glaube nicht daran, dass man mehr herausholen kann als drinsteckt. Ich erledige den Job, der von mir erwartet wird. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass das Auto macht, was ich möchte. Ich musste mich ziemlich anpassen.
Wie?
Norris: Das ist schwer zu beschreiben. Wie ich das Auto lenke. Wie ich Bremse. Es ist nicht einfach so, dass du auf die Bremse trittst, und dann einlenkst. Es geht um das Timing, wie schnell oder langsam du es machst. Langsame, mittelschnelle, schnelle Kurven: Das ändert sich ständig. Eigentlich will ich viel Schwung in die Kurve mitnehmen. Also von der Bremse runtergehen und den Kurveneingang attackieren. Von diesem Stil bewege ich mich in diesem Jahr weiter weg. Dieses Auto ist nicht für meinen Fahrstil gemacht. Ich musste mich darauf einstellen. Das habe ich getan, aber es fühlt sich für mich immer noch nicht natürlich an. Ich bin glücklich mit meiner Performance. Selbst mit diesem Auto hole ich viel raus.
Was fordern Sie von einem Auto? Charles Leclerc sagt, dass er Untersteuern hast und Übersteuern liebt. Wie geht es Ihnen?
Norris: Ich bin da gleich gestrickt. Ich hasse untersteuernde Autos. Und genau so eines haben wir aktuell. Ich versuche gewöhnlich, Flügel vorne dazu zunehmen und die mechanische Balance des Autos so zu verändern, dass es gierig einlenkt. Manchmal ist es aber so, dass du trotzdem das Untersteuern behältst und gleichzeitig Übersteuern dazukommt. Ich war immer ein Fahrer, der ein agiles Auto möchte. Und dann mit den Konsequenzen lebt, dass das Auto hinten eben stärker rutscht.
Weil Sie mehr Kontrolle durch das Übersteuern spüren?
Norris: Ja. Du hast mehr Kontrolle. Ein übersteuerndes Auto macht, was ich will. Wenn ich etwas mehr lenken will, rotiert es. Ich kann besser kontrollieren, wie ich das Auto für die Kurve positioniere. Beim Untersteuern ist es anders: Da habe ich das Gefühl, dass das Auto mich kontrolliert. Wenn du mitten in der Kurve steckst, und Untersteuern hast, musst du lange mit dem Beschleunigen warten. Das fühlt sich wie eine Ewigkeit an, selbst wenn nur ein halbes Zehntel verloren geht.
Wollen Sie das ändern lassen für die nächste Saison?
Norris: Würde ich gerne. Es ist aber nicht so einfach. Ich gebe dem Team ständig Rückmeldung. Sie wissen, was ich gerne hätte. Gleichzeitig will ich, dass sie mir einfach das schnellstmögliche Auto in die Hände geben. Und wenn das nicht meinen Vorstellungen entspricht, ist das trotzdem in Ordnung. Mein Job als Fahrer ist es, mich darauf einzustellen.
Was ist die größte Schwäche des Autos?
Norris: Da bin ich nicht ganz sicher. Allgemein fehlt Abtrieb. Gleichzeitig mangelt es ein bisschen an Effizienz. Schauen Sie sich den Red Bull an. Die fahren mit so einem großen Flügel in Monza. Trotzdem ist ihr Topspeed so gut wie unserer. Dabei fahren wir einen Flügel, der fast flach liegt. Wir brauchen also viel mehr Abtrieb und gleichzeitig weniger Luftwiderstand.
Welche Note würden Sie sich selbst geben? Von eins bis zehn. Von sehr schlecht bis perfekt.
Norris: 8,9.
Wieso 8,9?
Norris: Wenn ich neun sage, klingt das zu selbstbewusst. Aber wie ich vorher schon ausführte. Sobald ich eine Chance auf gute Punkte hatte, war ich da. Wenn wir die Chance aufs Q3 in der Qualifikation hatten, war ich drin. Bis auf Barcelona. Das war mein einziges Qualifying mit Fehler. Da haben sie mir die Runde wegen Track Limits gestrichen. In dieser Kurve gab es sie vorher aber nie. Dazu war ich dort auch noch krank. Ansonsten habe ich nie einen großen Fehler gemacht, der mich aus Q1 oder Q2 geworfen hat. Vielleicht mal kleinere Patzer, die eine oder zwei Positionen gekostet haben. Im Rennen habe ich mir auch nichts zu schulden kommen lassen, was mich fünf Plätze oder so kostete. Ich habe das Gefühl, dass ich mit meinen Leistungen dem Team helfe, überhaupt gegen die Alpine zu kämpfen.
Red Bull und Ferrari sind eine Sekunde weg. Mercedes scheint sich langsam auf diesem Niveau zu bewegen. Normal kann man so einen Rückstand nicht aufholen. Sind Sie dennoch optimistisch?
Norris: Ich kann nicht einfach mit Ja oder Nein antworten. Ich glaube an uns. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem wir besser verstehen, was wir machen müssen. Welche Richtung wir einschlagen müssen, und wie wir unsere Ziele erreichen. Wir haben auch ein besseres Verständnis, warum wir in den letzten beiden Jahren nicht so viele Schritte nach vorne gegangen sind, wie wir es wollten. Liegt es an unserer Fahrzeug-Philosophie? Am Design? Am Windkanal? Ich hoffe, dass unser neuer uns für 2024 und 2025 hilft. Ich muss den Glauben haben, dass mein Team gute Arbeit verrichten kann.
Sie erwähnen den Windkanal. McLaren baut daneben auch einen neuen Simulator. Beides sind Werkzeuge, die aber erst bei der Entwicklung des 2024er Autos helfen. Teamchef Seidl sagt, dass 2024 das Jahr der Wahrheit für McLaren wird.
Norris: Da stimme ich zu 100 Prozent zu. Das wird unser erstes Jahr, indem wir keine Entschuldigungen mehr haben. Aktuell können wir noch gute Ausreden vorbringen. Glauben Sie mir: Keinem gefällt es zu sagen, dass wir das bestmögliche Wochenende abgespult haben – und wir nur aus den genannten Gründen hintendran sind. Wir schauen immer, was wir besser machen können. 2024 wird das erste Jahr, indem wir mit unserer Infrastruktur fast auf dem Level der Topteams agieren. Der Rest liegt dann an uns, an den Leuten, die hier arbeiten.
Sind Sie geduldig?
Norris: Überhaupt nicht. Das musste ich erst lernen. Speziell in der Formel 1. Außerhalb bin ich weiter ungeduldig. Ich will eine gewisse Performance am liebsten immer direkt beim nächsten Wochenende. Aber so schnell geht es nicht. Da musst du lernen, dass es ein oder zwei Jahre länger dauern könnte. Manchmal sogar noch länger.
Sie haben immer noch das Gefühl, beim richtigen Team zu sein?
Norris: Ich bin super-glücklich und fühle mich wohl. Ich genieße es bei McLaren. Ich arbeite gerne mit den Jungs zusammen. Ich glaube an sie. Wenn ich das nicht täte, hätte ich keinen langfristigen Vertrag unterschrieben. Mein Kopf schaut voraus. Meine Ideen sind langfristig. Wir müssen kontinuierlich weiterarbeiten. 2024 und 2025 werde ich dann meine beste Chance mit McLaren haben.
Ab nächster Saison stößt Oscar Piastri zum Team. Verändert sich Ihre Rolle?
Norris: Jeder Fahrer, der neu in ein Team kommt, wird als Underdog angesehen. Die Neulinge fahren ja gegen einen, der schon länger dabei ist. Es wird sicher eine andere Situation. Erstmals werde ich nicht der Jüngste im Team sein. Und nicht der Pilot mit der geringsten Erfahrung. Aktuell kommt bei der Entwicklung viel von beiden Fahrern. Daniel nutzt seine Erfahrungen aus Zeiten mit Red Bull und Renault. Meine Erfahrung habe ich bei McLaren gesammelt. Ich hatte zwei verschiedene Teamkollegen. Das fließt ein. Oscar wird seine Sicht einbringen. Aber er hat nicht die Erfahrung von Daniel mit anderen Teams. Oder meine innerhalb von McLaren.
Es heißt, Sie hatten vor Vertragsverlängerung auch mit Red Bull gesprochen?
Norris: Natürlich gibt es von Zeit zu Zeit mal Gespräche mit anderen Leuten. Man stellt sich immer die Frage: Was ist das beste für meine Karriere? Ich will schließlich gewinnen und Weltmeisterschaften holen. Es gab Gespräche mit Red Bull. Sie sind ein Team, das seit Jahren unter den besten drei ist. Aber das zeigt doch nur noch mehr, wie viel Vertrauen ich in McLaren habe. Obwohl es Gespräche gab, hatte ich das Gefühl, dass McLaren besser für mich ist, um meine Ziele zu erreichen.