Charles Leclerc ist eine Macht in Baku. Sein Vorsprung von 0,321 Sekunden in der Qualifikation war eine Demonstration seiner Sonderstellung auf dem schnellen Stadtkurs. Solche Abstände gibt es bei der hohen Leistungsdichte im Feld nur noch ganz selten. Als Leclerc die Führung übernahm und Oscar Piastri ab der sechsten Runde spielerisch leicht aus der DRS-Zone abschüttelte, da schien der Sieger bereits festzustehen.
Ferrari und McLaren hatten ihre Autos unterschiedlich abgestimmt. Ferrari setzte auf die sichere Karte mit mehr Abtrieb. Das sollte die Reifen schonen. Für McLaren war ein hoher Topspeed wichtiger. Auch weil die FIA die DRS-Zone auf der Zielgeraden im Vergleich zu 2023 wieder um 100 Meter verlängert und auf den Stand von 2022 gebracht hatte.
Wo gingen 4,5 Sekunden verloren?
Auf den Medium-Reifen spielte Ferrari seine Stärken aus. Die roten Autos gingen schonender mit der C4-Mischung um als ihre Verfolger. Nach 14 Runden betrug der Vorsprung von Leclerc auf Piastri schon satte 5,9 Sekunden. Piastri gab zu, dass es unmöglich war, dem Ferrari zu folgen.
Nachdem Piastri und Leclerc ihre Boxenstopps in den Runden 15 und 16 abgewickelt hatten, klebte der McLaren plötzlich wieder im Heck des Ferrari, und alle fragten sich: Wie ist das möglich? Boxenstopps von anderen Fahrern zuvor deuteten an, dass der Undercut weit schwächer war als erwartet. Bei vielen Autos dauerte es ewig, bis Temperatur in die harten Reifen kam. Dazu zählte auch Ferrari. Was Ferrari hätte einplanen müssen: Wer so gut mit den Medium-Reifen umgeht, hat auf der härteren Mischung automatisch ein Aufwärmproblem.
Die Renn-Historie zeigt, wie sich Leclercs Polster innerhalb von drei Runden auf 1,3 Sekunden eindampfte. Hier der Vergleich zwischen dem Quali-Schnellsten und seinem Verfolger:
Daraus ergibt sich ein Delta von 4,5 Sekunden zugunsten von Piastri. Leclerc führte das auf Ferraris Probleme zurück, die harten Reifen in ihr Arbeitsfenster zu bringen. "Ich spürte sofort, dass Grip fehlt. Deshalb habe ich auch bei Oscars Überholmanöver nur halbherzig dagegengehalten. Der Grip war noch nicht da, um auf der letzten Rille zu bremsen." Teamchef Frédéric Vasseur meinte hinterher selbstkritisch: "Wir waren zu konservativ. Charles hatte das Boxenstopp-Fenster, um in der gleichen Runde Reifen zu wechseln wie Piastri."
Piastris ignoriert seinen Renningenieur
Das war nicht das einzige Problem des Favoriten. Er hätte wissen müssen, dass sein Verfolger nur eine einzige Chance hatte, dieses Rennen zu gewinnen. Piastri musste an Leclerc vorbei, bevor der Ferrari wieder Fahrt aufnahm. So dachte auch Piastri. Der Australier bewertete seinen zweiten GP-Sieg so: "40 Prozent gehen auf das Überholmanöver, 60 Prozent auf die Verteidigungsschlacht."
Der McLaren-Pilot schlug bei seiner Attacke alle Warnungen seines Kommandostandes in den Wind. "Ich hatte es auf den Medium-Reifen im ersten Stint schon einmal probiert und habe dabei komplett meine Reifen verheizt. Mein Renningenieur sagte: Mach das nie wieder. Aber ich musste es tun. Es war meine einzige Chance. Ferrari hatte das schnellere Auto an diesem Tag."
Das Überholmanöver hatte die gleiche Qualität wie das in Monza, als Piastri seinen Teamkollegen Lando Norris in der Roggia-Schikane ausbremste. Teamchef Andrea Stella schwärmte: "Oscar traf beim Bremsen innen den Randstein. Dass er das Auto trotzdem auf der Strecke gehalten hat, war Weltklasse." Auch der Australier gab zu: "Das war ein Manöver mit hohem Risiko. Ich glaube, Charles hat gedacht, dass ich in den Notausgang segle, und ehrlich gesagt, war ich auch ein bisschen überrascht, dass es gereicht hat."
Leclercs Fehleinschätzung
Es folgten 30 Runden bester Motorsport. Leclerc hing dem McLaren ständig im DRS-Bereich, was zeigt, dass der Ferrari eindeutig schneller war. "Ich habe von der freien Strecke vor mir profitiert", gab Piastri zu. "Danach musste ich nur schauen, dass ich ab Kurve 7 bis 15 einen kleinen Vorsprung halte, um genügend Puffer zu haben. Im Engpass am Stadttor und in Kurve 15 wäre ich ein paar Mal fast abgeflogen."
Leclerc trauerte einer falschen Einschätzung nach: "Ich war nicht allzu besorgt, als Oscar mich überholt hat, weil ich mir sagte, dass ich ihn später noch kriege." Sechs fehlgeschlagene Angriffe später, sah der Ferrari-Pilot ein: "Leider kam die Gelegenheit nie mehr. Wir waren einfach zu langsam auf der Gerade. Nach 25 Runden Hinterherfahren waren meine Reifen komplett am Ende. Damit war das Rennen gelaufen."