Die vergangene Saison verlief nicht nach dem Geschmack von McLaren. Alpine verdrängte den Traditionsrennstall aus Woking auf den fünften Platz. Dazu fiel die Punkteausbeute deutlich geringer aus. Statt 275 Punkten machte McLaren nur noch 159 Zähler. Und für 2023 droht auch noch Konkurrenz von hinten. Aston Martin drängelt durch die Ankunft von Fernando Alonso und zahlreicher Top-Ingenieure.
Vor diesem Hintergrund wird es sich McLaren nicht leisten können, wie 2022 schleppend in die Saison zu starten und Schwächen am Fahrzeug mit mehreren großen Upgrades auszumerzen. Das neue Auto soll von Beginn an besser sein. "Wir wollen auf einem besseren Niveau beginnen", gibt Speerspitze Lando Norris vor.
McLaren braucht eine stabilere Plattform für eine kontinuierliche Weiterentwicklung. Diese Hoffnung ist mit dem neuen MCL60 verbunden. Die Zahl im Kürzel ist auf ein Jubiläum zurückzuführen. Das Rennteam feiert seinen 60. Geburtstag. 1963 wurde der Rennstall gegründet. Den ersten Formel-1-Grand-Prix bestritt man drei Jahre später in Monte-Carlo.
Platz vier das Saisonziel
Der neue Teamchef ruft den vierten Platz als Saisonziel aus. "Wir müssen realistisch bleiben. Die großen Drei dürften weiterhin vorne sein. Wir haben über den Winter gute Arbeit geleistet. Ich bin sicher, dass in diesem Auto Potenzial steckt. Manches werden wir bereits zum Saisonstart freisetzen, anderes über die Entwicklung", sagt Andrea Stella. Mehr Speed will McLaren durch frühe Updates in der neuen Saison gewinnen.
Die Technikmannschaft um James Key bleibt mit dem MCL60 auf dem eingeschlagenen Weg, auf den man sich nach dem Rumpelstart 2022 begeben hatte. An der Vorderachse sind weiter Zugstreben (Pullrods) verbaut. Federn und Dämpfer sitzen tief unten im Vorderbau. Das senkt den Fahrzeugschwerpunkt. Allerdings verkompliziert der tiefe Einbau Umbauten des Setups. Die Mechaniker brauchen "kleine Finger", um an die Elemente zu kommen. An der Hinterachse entschied sich McLaren wieder für Druckstreben. Der Pushrod kommt mit mehr Volumen in der Mitte, macht das Leben am hohen Diffusor aber leichter.
Nase und Frontflügel lassen auf eine moderate Weiterentwicklung am Vorderbau schließen. Da lässt sich nicht so viel Rundenzeit herausholen wie in den hinteren Bereichen des Autos. Der Fokus der Ingenieure richtete sich auf die Seitenkästen, den Unterboden und das Heck. Bereits 2023 hatte McLaren damit begonnen, Red Bull und Ferrari nachzueifern.
Ferrari und Red Bull als Vorbild
Vom Klassenprimus hatte man sich den Seitenkasten-Einlass mit einer ausgeprägten unteren Lippe abgeschaut. Diese Philosophie reizt McLaren mit dem MCL60 weiter aus, indem man die Öffnung stark nach hinten pfeilt. Allgemein wirkt der Eingang auch schmaler gebaut. Der Undercut darunter ist stark ausgeprägt. Hier lässt sich ein Trend mit den 2023er Autos erkennen. Auch Alfa-Sauber, Williams und Alpha Tauri verfolgen ähnliche Lösungen.
Auf der Oberseite des Seitenkastens läuft eine lange Rampe mit einer leichten Einkerbung. McLaren hat dafür die Kante an der Außenseite stärker moduliert. Über die Rutschen-förmige Rampe soll die Luft gezielt in Richtung Unterbodenkante und Diffusordach gelenkt werden. Die Form des Seitenkastens legt nahe, dass McLaren die Kühler darunter anders positioniert hat.
In Seitenkasten und Motorabdeckung sind großflächig Kühlrippen eingelassen. Auf dem zentralen Bereich der Motorhaube könnte man einen Arm ablegen. Diese fast horizontale Ausbuchtung hatte in ähnlicher Form bereits der Vorgänger. Viel Arbeit ist mit Sicherheit in den Bau des Unterbodens geflossen. Die neuen Regeln mit um 1,5 Zentimeter angehobenen Kanten kosteten auf dem Papier rund eine halbe Sekunde.
MCL60 in Köln entwickelt
McLaren musste im Verhältnis mehr Abtrieb finden, und sein Auto obendrein effizienter machen. Der Topspeed war keine Stärke des MCL36. Das muss 2023 besser werden. Ein etwas leistungsstärkerer Mercedes-Motor würde in dieser Hinsicht natürlich helfen. Die Ingenieure mussten aber auch am Luftwiderstand arbeiten. Den Heckflügel stützt McLaren weiterhin auf einer Stelze.
Die Farbgebung hat sich nur in Details verändert. Der Frontflügel ist nicht mehr mit Farbe besprüht, dafür aber der Heckflügel in Papaya-Orange gehalten. Allgemein gilt: An vielen Fahrzeugflächen schimmert das blanke Kohlefaser durch. Das spart Kilos. McLaren hatte im Vorjahr nicht das Gewichtslimit erreicht.
Mit einem Laster müssen die Ingenieure leben. Die neuen Einrichtungen für die Entwicklung – Windkanal und Simulator – werden nach einigen Verzögerungen voraussichtlich erst in diesem Jahr fertig. "Im Sommer sollte alles bereitstehen", sagt McLaren-Boss Zak Brown. Heißt: Das 2024er Auto wird in Teilen im neuen Windkanal entstehen, der 2025er McLaren dann ausschließlich dort.
Bis dahin muss die Technikmannschaft weiter bei Toyota in Köln ausweichen. "Das ist aus Kostengründen leider ineffizient", beklagt Brown. Und: Der Windkanal dort entspricht nicht den modernen Standards in der Formel 1. Von daher wäre es vermessen, die Topteams ins Visier zu nehmen.
Norris vs. Piastri
Die Fahrer sollen für das ein oder andere Highlight sorgen. Lando Norris geht in seine fünfte McLaren-Saison. Seinen Worten werden die Ingenieure noch mehr Bedeutung schenken. Der 23-Jährige, der noch bis einschließlich 2025 unter Vertrag steht, reift zur Führungspersönlichkeit. "Ich habe sicher mehr Verantwortung zu tragen. Mit meinem Wissen und der Erfahrung will ich dazu beitragen, dass wir vorankommen. Ich erwarte auch von mir selbst den nächsten Schritt. Hoffentlich liegt das neue Auto meinem Fahrstil besser." Norris wünscht sich Über- statt Untersteuern.
Mit Oscar Piastri hat er einen hochdekorierten Rookie neben sich. "Er ist da, um mich voranzutreiben und das Team zu pushen", meint Norris. Piastri gibt sich zumindest nach außen hin gelassen. "Das Team hat Erfahrung mit neuen Fahrern. Sie haben schließlich Lando nach oben in die Formel 1 gezogen und gut integriert. Ich bin nach einem Jahr auf der Ersatzbank hungrig. Ich weiß aber auch, dass ich zumindest in den ersten Rennen etwas Rost abschütteln muss. Jedes gute Ergebnis wäre von dem her ein willkommener Bonus."
Norris und Piastri scheinen sich gut zu verstehen. "Er ist ein bodenständiger Typ. Das gefällt mir", sagt der Team-Leader. McLaren-Teamchef Andrea Stella lobt seinen Rookie bereits in hohen Tönen. "Oscar ist keiner, der viele Worte sagt. Aber er sagt die richtigen. Oscar ist ein sehr fordernder Pilot. Aber in einer positiven Weise."