Es war schon bei der Fahrzeugpräsentation zu spüren. McLaren ist pessimistisch gestimmt. Der neue MCL60 ist bisher nicht der erhoffte Fortschritt. Was die Ingenieure im Windkanal, im Simulator und am Computer entwickelt haben, deckt sich zwar mit den Erkenntnissen auf der Rennstrecke. "Die Korrelation stimmt. Wir sind dort, wo wir uns selbst erwartet hatten. Bis jetzt haben wir keine Überraschungen erlebt", sagt Teamchef Andrea Stella.
Doch genau darin liegt das Problem. McLaren hatte beim Blick auf die eigenen Daten bereits stark vermutet, mit Rückstand zu starten. Eine positive Überraschung ist wie erwartet ausgeblieben. Die eher düsteren Prognosen sind eingetreten. "Ich stelle einen kleinen Fortschritt fest", resümierte Neuzugang Oscar Piastri nach eineinhalb Testtagen. Der Australier kennt das alte Auto von den letztjährigen Testfahrten in Abu Dhabi nach Saisonende. Ein kleiner Schritt mit einem neuen Rennwagen ist in der Formel 1 aber meist zu wenig. Danach sieht es auch in diesem Fall aus.
Dieser neue McLaren scheint dazu noch ein schwer zu fahrendes Auto zu sein. Man sieht es daran, wie schwer sich Piastri tut. Der Rookie fiel mit mehreren Verbremsern auf. Am dritten Testtag segelte er sogar kurz von der Strecke. In Kurve neun war das Heck des McLaren schlagartig ausgebrochen. Immerhin schlug Piastri nicht ein.
McLarens offener Umgang
McLaren macht keinen Hehl daraus. "Wir haben unsere selbst gesteckten Ziele nicht erreicht", gibt Chef Zak Brown zu. "Wir denken, dass es der beste Weg ist, damit offen und ehrlich umzugehen." Das muss man dem Rennstall aus Woking zugutehalten. McLaren versteckt sich nicht hinter Floskeln. Man beschreibt die Probleme, die man mit dem neuen MCL60 bisher erlebt.
Aston Martin geht kommunikativ den gegenteiligen Weg und verschweigt noch immer, wie schwer sich Lance Stroll bei seinem Fahrradunfall verletzt hat. Ja, das sind zwei unterschiedliche Fälle. Und doch muss man über Aston Martin in diesem Fall den Kopf schütteln. Was soll es bringen, die Öffentlichkeit im Dunkeln zu lassen? Das regt nur umso mehr zu Spekulationen in alle Richtungen an.
Kommen wir zurück zu McLaren. Teamchef Andrea Stella präzisiert, in welchem Bereich die Ingenieure um Technikchef James Key ihre selbst gesteckten Ziele nicht erreicht haben. "Wir haben uns mit dem neuen Auto klare Zielmarken gesetzt. Zum Beispiel, was die aerodynamische Effizienz, die Nutzung der Reifen und die Fahrzeugbalance anbetrifft. Die meisten dieser Ziele haben wir erfüllt. Doch die aerodynamische Effizienz ist nicht zufriedenstellend."
Ineffizienter McLaren
Das Verhältnis aus Luftwiderstand und Anpressdruck war schon im letzten Jahr eine Baustelle. Schon der alte MCL36 war kein Auto für einen guten Kompromiss. Entweder es war vernünftig in den Kurven und dafür langsam auf den Geraden. Oder umgekehrt. Alpine war dem Papaya-Renner in dieser Disziplin einen Schritt voraus.
Auch der neue McLaren erzeugt für den generierten Abtrieb zu viel Luftwiderstand. Man ist in den Kurven nicht der Hit und stellt dennoch auf den Geraden zu viel Fläche in den Wind. Die GPS-Daten offenbaren, dass McLaren in keinem Kurventyp wirklich einen echten Fortschritt im Vergleich zu den Schnellsten gemacht hat.
Die Ingenieure scheinen bei der Entwicklung falsch abgebogen zu sein. Zu spät stellten sie fest, dass sie mit ihren Ideen in die Falle laufen, und dass andere Konzepte wesentlich mehr Spielraum bei der Entwicklung versprechen. Der neue McLaren treibt keinen Bereich ins Extreme. Er wirkt wie eine Ansammlung von Ideen der Konkurrenz. "Wir haben zu spät gesehen, dass eine andere Richtung bei der Aerodynamik mehr Potenzial hat", führt Stella mit ruhiger Stimme aus. So hinkt McLaren in der Entwicklung um mehrere Wochen zurück. "Wir hätten schon Monate früher auf einem anderen Kenntnisstand sein sollen."
Zu den Performance-Problemen gesellen sich auch noch technische. Am dritten Testtag musste McLaren Teile des Vorderwagens verstärken. Die Kotflügel über den Rädern waren nicht stabil genug. Eigentlich ein Standardteil. Es handele sich aber nur ein kleineres Problem, das spätestens bis zum ersten Rennen in einer Wochen nachhaltig gelöst sei, versprechen die Techniker.
In Panik verfällt der neue Teamchef nicht, obwohl McLaren ein bitterer Auftakt in die Saison droht. "Wir sehen uns nicht im Bereich der Top-4-Autos." Aston Martin hat offenbar einen großen Sprung gemacht. Alpine war schon im Vorjahr vor McLaren. Und mit Alfa-Sauber und Haas droht Konkurrenz von hinten. "Das Mittelfeld erscheint uns noch enger", sagt Stella. "Da kann es schnell passieren, dass man im Q1 rausfliegt, wenn man das Setup nicht voll trifft. Wenn du es aber perfekt hinbekommst, kannst du auch bis ins Q3 vordringen."
Druck auf Key wächst
Es ist ähnlich wie im letzten Jahr. McLaren braucht früh in der Saison größere Entwicklungsimpulse. Mit dem Unterschied, dass in der letzten Saison alle mit einem weißen Blatt begannen. 2023 konnten die Ingenieuren auf den Erkenntnissen aus dem Vorjahr aufbauen. In beiden Jahren lag McLaren anfangs daneben. Das macht das Leben von Technikchef Key ungemütlicher. Der Druck auf ihn wächst.
Das Technikbüro arbeitet bereits an ersten Upgrades. "Wir brauchen eine schnelle Reaktion und eine starke Entwicklungsrate über die Saison", fordert Stella. "Wir müssen aggressiv sein, denn für uns ist jetzt schon klar, dass wir aufholen müssen und nur mit stetiger Entwicklung unsere Konkurrenz überholen können." Schränkt dafür nicht die Budgetobergrenze ein? Stella verneint: "Das will ich nicht als Ausrede vorbringen. Wir haben eine gute Struktur, um auch unter dem Budgetdeckel aggressiv zu entwickeln."
Die Ziele hat McLaren trotz des missglückten Auftakts nicht angepasst: "Wir wollen Vierter werden. Die Saison ist lang." Das erste größere Paket ist für Baku anvisiert. Es muss nicht zwangsläufig eine B-Version sein. "Ein paar kleinere Bereich haben einen ziemlich großen Einfluss auf die Rundenzeit. Wenn wir die ändern, heißt das nicht unbedingt, dass wir ein grundlegend anderes Auto haben werden."
Neuzugang Piastri wird vor zu viel Druck geschützt. "Wir messen ihn zunächst nicht an Ergebnissen. Natürlich gibt es Vergleiche zu Lando. Da geht es aber nicht darum, ob er zwei Zehntelsekunden hier oder da verliert, sondern um einen konstruktiven Vergleich. Wir erwarten von ihm dasselbe wie von unserem Auto. Stetige Fortschritte."