Für Mercedes wurden die letzten Runden des GP Abu Dhabi zur Zitterpartie. George Russell und Lewis Hamilton kämpften an zwei Fronten um jeden Punkt. George Russell musste sicherstellen, dass er Dritter hinter Charles Leclerc bleibt. Und Lewis Hamilton war auf der Jagd gegen Yuki Tsunoda im Kampf um Rang 8.
Am Kommandostand von Mercedes wusste man: "Eine der beiden Aufgaben muss funktionieren." Sonst wäre Ferrari doch noch Zweiter in der WM geworden. Bei Hamilton ging sie schief. Der Rekordsieger hatte Yuki Tsunoda vor Kurve 9 schon ausgebremst, doch der kleine Japaner konterte trotz dahinsiechender Reifen. Tsunoda brauchte selbst jeden Punkt im Kampf mit Williams um den 7. Platz.
In den Zweikampf Leclerc gegen Russell mischte sich in den letzten Runden auch noch Sergio Perez ein. "Den hatten wir gar nicht mehr auf der Rechnung. Perez lag nach dem zweiten Boxenstopp elf Sekunden hinter uns", gab Mercedes-Teamchef Toto Wolff zu. Da waren die fünf Sekunden Zeitstrafe, die der Red-Bull-Pilot nach einer Kollision mit Lando Norris zu erwarten hatte, schon mit eingepreist.
Leclerc verzichtet darauf, Russell einzubremsen
Als sich Perez wie der Wirbelwind näherte, war Mercedes klar, dass daraus noch eine heikle Situation entstehen könnte. Was, wenn Perez Russell und Leclerc überholt, die Strafe gegenüber Leclerc nicht mehr einfahren könnte, gegen Russell aber doch? Das wären die sechs Punkte Differenz gewesen, die Ferrari brauchte. Auf einen Angriff gegen den Ferrari musste Mercedes nicht mehr hoffen. Leclerc hatte seine Reifen besser in Schuss gehalten und kontrollierte den Abstand zu Russell auf zwei bis drei Sekunden.
Fünf Runden vor Schluss ging Perez am Mercedes vorbei. "Er war so schnell, ich hatte keine Chance ihn zu halten", bedauerte Russell. Ferrari setzte seinen Fahrer ins Bild und bat ihn Perez zu helfen, die fünf Sekunden auf Russell gutzumachen. Doch dafür war Perez trotz der roten Schützenhilfe eine Spur zu langsam und Russell etwas zu schnell. Am Ende fehlten dem WM-Zweiten 1,1 Sekunden auf den 3. Platz.
Leclerc zog den Red Bull im Windschatten bis auf drei Sekunden weg, er ließ ihn in der letzten Runden vorbei, doch er stellte sich dem Mercedes nicht in den Weg. Was er im letzten Sektor locker hätte tun können. Da kann man zwei Sekunden langsamer fahren, ohne dass der Gegner vorbeikommt. "Ich habe erwartet, dass mich Charles aufhält, doch Hut ab, dass er sauber gefahren ist", lobte Russell.
Toto Wolff applaudierte ebenfalls: "Charles hätte im letzten Sektor die Handbremse anziehen können, doch er hat sich wie ein Sportsmann verhalten." Sein Ferrari-Kollege Frédéric Vasseur nahm es sportlich: "Wir haben auf eine faire Art alles gegeben, um Perez zum dritten Platz zu verhelfen. Russell zu blockieren, wäre ein gefährliches Spiel gewesen. Wenn es dumm läuft, hätten am Ende beide Plätze verloren."
Zweiter ist bester Verlierer
Mercedes feierte den Vize-Titel eher leise. Er bringt 15 Millionen Dollar mehr vom Formel-1-Kuchen, kostet aber auch fünf Prozent an Windkanalzeit. Für ein Team, das achtmal in Folge den Konstrukteurs-Titel gewonnen hat, ist der 2. Platz das beste Ergebnis der Verlierer. Oder wie es Wolff ausdrückte: "An dem Tag, an dem du den zweiten Platz gewinnst, weißt du, dass du den ersten Platz verloren hast." Auf die Frage, ob ihm Rang 3 mit einem Sieg lieber gewesen wäre wie die zweite Position ohne, wollte er sich erst gar nicht einlassen: "Wir sind beide Verlierer.""
Mercedes hat seinen Vorsprung aus der ersten Saisonhälfte gerade so über die Ziellinie gerettet. Der Abstand von 56 Punkten schrumpfte auf drei. Sowohl Mercedes als auch Ferrari sammelten damit nicht einmal halb so viele Zähler wie Weltmeister Red Bull. "Wenn wir die einholen wollen, müssen wir den Mount Everest besteigen", sprach Wolff in Bildern.
Mercedes musste aber auch zugeben, dass Ferrari nach der Sommerpause besser mit den Defiziten seines Autos umgegangen ist. In den letzten Rennen musste Mercedes sogar in seiner Spezialdisziplin Federn lassen. Der Ferrari ging besser mit seinen Reifen um. Vasseur führte das darauf zurück, dass man das schnellere Auto hatte. "Da fällt es immer leichter, die Reifen zu schonen."
Alles neu bei Mercedes
Der große Gegner Red Bull hat in der zweiten Saisonhälfte die Entwicklung an seinem RB19 eingestellt und sich schon voll auf das 2024er-Auto konzentriert. Wolff macht das weniger Angst als die Tatsache, dass Red Bull seinen Vorsprung von Anfang 2022 bis jetzt konservieren konnte. Bei Mercedes und Ferrari liefen die Uhren auch relativ früh für das nächste Jahr. Beide brachten nach der Sommerpause nur jeweils ein Upgrade. Beide einen neuen Unterboden. Mercedes in Austin, Ferrari in Suzuka.
Die McLaren-Story dieser Saison gibt den beiden großen Marken in dem Geschäft die Hoffnung, dass große Schritte möglich sind. "Was McLaren kann, müssen wir auch können. Und auch Alpha Tauri hat gezeigt, wie man Boden gutmacht. Es gibt also einen Schlüssel, wie man dramatisch mehr Rundenzeit finden kann", sagt Wolff.
Mercedes wird für 2024 sein Auto total auf den Kopf stellen. "Alles wird neu sein. Das Chassis, die Gewichtsverteilung, die Aerodynamik", verspricht Wolff. "Nur so haben wir eine Chance, Red Bull einzuholen. Allerdings auch das Risiko falsch zu liegen." Alles kommt auf eine stabile aerodynamische Plattform an. Dann ist man auch in der Lage wie Max Verstappen die Reifen in ihrem Fenster zu halten. "Im Augenblick ist Max der einzige, der sie voll versteht."