Sie haben Ihre Karriere als Reifeningenieur bei Michelin begonnen. Verstehen Sie die Reifen heute besser?
Waché: Es ist eine Hilfe. Die Physik der Reifen ist immer die gleiche. Aus meiner Erfahrung kann ich besser einordnen, wie wir die Reifen behandeln müssen und welche Reaktion wir vom Auto dafür kriegen. Ein Ingenieur mit einem anderen Hintergrund wird das Fahrverhalten vielleicht etwas anders deuten. Ich persönlich nutze diesen Aspekt, um das Auto zu verstehen.
Sie sind durch viele Stationen gegangen, von der Aerodynamik bis zur Fahrdynamik. Wie viele Ingenieure mit einem Gesamtüberblick wie Sie gibt es noch in der Formel 1?
Waché: Aerodynamik wäre zu viel gesagt. Aerodynamik war Teil meines Studiums. Ich würde mich aber mit meinem Wissen nicht trauen, ein Auto zu bauen. Ich verstehe die Grundbegriffe, aber es wäre zu viel der Ehre, wenn Sie mich einen Aerodynamiker nennen. Ich glaube, dass immer noch sehr viele Ingenieure in der Formel 1 ein breites Knowhow haben und wissen, wie ein Rennauto funktioniert. Das sind alles Top-Leute. Aber irgendwann spezialisierst du dich meistens auf ein Thema. Und das Geschäft zwingt uns dazu, dieses sehr eng begrenzte Fachwissen zu fördern, weil man da das meiste rausholen kann.
2018 sind Sie bei Red Bull zum Technischen Direktor aufgestiegen. Wie hat sich ihre Rolle seit Einführung des Budgetdeckels verändert?
Waché: Sie hat sich massiv verändert. Davor gab es speziell in diesem Team keine Limits. Die Grenze für das Konzept und die Entwicklung des Autos wurde von den Kapazitäten gesetzt, die vorhanden waren. Jetzt spielt die Effizienz im Vergleich zur Performance eine große Rolle. Das Management von Budget und Ressourcen ist eine große Einschränkung im Vergleich zu der Zeit davor. Das ist sicher von Team zu Team verschieden. Einige Teams mussten sich vorher schon einschränken. Bei Red Bull war das nicht der Fall. Deshalb waren die Jahre 2021 und 2022 für uns eine große Herausforderung. Wir mussten uns komplett umstellen. Jetzt haben wir uns daran gewöhnt, und mein Job erinnert mich wieder mehr an die Zeit davor. Das System ist jetzt Standard geworden.
Sehen Sie den Budgetdeckel als Herausforderung oder Hindernis, speziell in Moment, wenn Sie Fehler beheben oder Rundenzeit finden müssen?
Waché: Jede Einschränkung ist eine Herausforderung. Als Ingenieur hätte ich natürlich lieber freie Hand. Ich habe kein Problem damit, wenn das Feld, auf dem wir spielen, genau definiert ist. Leider ändert es sich oft alle fünf Minuten. Es wäre besser, wenn man sich darauf verlassen könnte.
Sie haben lange mit Adrian Newey gearbeitet. Hat er Sie inspiriert?
Waché: Er war mehr als eine Inspiration. Er ist eine Legende. Er verdient diesen Titel, weil er hart arbeitet, weil er für den Job lebt, und weil er immer gewinnen will. Was ich von ihm gelernt habe, ist, dass er trotz all dieser Titel und Siege technisch unvoreingenommen geblieben ist. In seinem Alter ist es eine bemerkenswerte Qualität, für alles offen zu sein, denn mit dem Alter wird man oft betriebsblind. Das geht auch mir manchmal so. Ich werde nie das erreichen, was er geschafft hat. Ich werde nie sein wie er, weil ich nie diese totale Leidenschaft entwickeln könnte wie er.
Seit 2022 fährt die Formel 1 mit Groundeffect-Autos. Wie viel komplexer sind die als ihre Vorgänger?
Waché: Die Komplexität ist ähnlich. Wir generieren heute den Großteil des Abtriebs an einer anderen Stelle. Das hat die Charakteristik der Autos stark verändert. Du setzt diese Autos ganz anders ein, weil die aerodynamische Plattform eine andere ist. Es gibt unterschiedliche Herausforderungen in Bezug auf den Kompromiss zwischen mechanischem und aerodynamischen Grip, wie zum Beispiel das Bouncing. Dazu kommt, dass die Regeln viel enger gesteckt sind als bei den alten Autos. Darin sehe ich das größte Problem. Wir können nicht mehr tun, was wir wollen. Deshalb ist es auch schwieriger, auf Probleme zu reagieren. Das kann frustrieren.
Red Bull hat 2022 nur einen Test gebraucht, um das Bouncing zu kontrollieren. Was haben Sie besser gemacht als die Konkurrenz?
Waché: Wir konnten schnell reagieren, weil wir schon nah an der Lösung waren. Wie schon gesagt, waren wir extrem auf guten mechanischen Grip fokussiert. Wir waren in der Lage, mit dem Werkzeug, das wir für diesen mechanischen Grip entwickelt hatten, eine stabile Aerodynamik-Plattform darzustellen, um so das Bouncing so weit wie möglich zu reduzieren. Ich glaube, alle anderen haben sich zu sehr auf die Aerodynamik konzentriert. Deshalb liefen sie bei dem Design der Aufhängung in eine Sackgasse. Wir hatten viel mehr Freiheiten, diesen Effekt zu unterdrücken.
Red Bull hatte fast zwei Jahre lang das überlegene Auto. Hat Sie das überrascht?
Waché: Anfang 2022 hatte Ferrari das schnellste Auto. Ab Mitte der Saison schlug das Pendel zu uns aus. Dass wir 2023 den Vorsprung halten konnten, hat mich sehr überrascht. Wir gingen davon aus, dass die anderen ihre Probleme erkennen und lösen würden. Ich verstehe, wenn man mal für ein Jahr ein Problem hat. Aber wir konnten den Vorsprung ja sogar ausbauen mit all den Restriktionen, die wir hatten. Als Weltmeister und mit der Budgetdeckel-Strafe hatten wir viel weniger Windkanalzeit. Noch mehr überrascht war ich, dass wir zu Beginn der aktuellen Saison immer noch einen Vorsprung hatten. Ich hatte eher das erwartet, was wir jetzt erleben. Dass mehr Teams um die Siege kämpfen.
Obwohl Red Bull letztes Jahr so überlegen war, haben Sie das Konzept geändert. Warum?
Waché: Wir gingen davon aus, dass die Konkurrenz schnell aufholt. Deshalb wollten wir den Vorteil dazu nutzen, das Konzept einen Schritt weiterzuentwickeln, um die Aerodynamik zu optimieren. Wir sind da einige Risiken eingegangen. Jetzt sieht es so aus, als hätte sich das nicht so ausgezahlt wie erhofft. Doch dieses Risiko war notwendig. Wir haben den ältesten Windkanal im ganzen Feld. Da leidet die Detailarbeit. Es war abzusehen, dass die anderen ihre Konzepte früher oder später optimieren werden. Deshalb brauchten wir einen radikalen Schritt. Wir haben keine Angst, Risiken einzugehen, egal ob in der Fabrik, an der Rennstrecke, bei der Strategie. Das ist die Mentalität dieses Teams. Ich kann noch nicht beurteilen, ob es ein guter oder schlechter Schritt war. Im Moment hilft es uns dank des guten Saisonbeginns, die Meisterschaften anzuführen. Vielleicht kommen wir am Ende des Jahres zu dem Schluss, dass es besser gewesen wäre, das Konzept, das wir hatten, weiterzuentwickeln.
Von welchen Risiken sprechen Sie?
Waché: Zum Beispiel bei der Kühlung. Da sind wir der Effizienz zuliebe ans Limit gegangen. Ich muss aber sagen, dass die Korrelation zwischen Simulation und Rennstrecke in dem Punkt sehr exakt war. Da haben unsere Leute einen tollen Job gemacht. Es hat uns viel mehr Freiheiten bei der Verkleidung gebracht. Wir haben uns auch sehr auf die klassische Aerodynamik oberhalb des Bodens fokussiert, indem wir versucht haben, verwirbelte Luft in Luftschächten verschwinden und anderswo austreten zu lassen. So wollten wir durch verbesserte Anströmung des Hecks den Luftwiderstand reduzieren. Das zeigt sich auch in den Resultaten. Wir stehen besser auf den Strecken da, wo Effizienz ein wichtiger Faktor ist.
Hat es Sie überrascht, dass McLaren mit einem Upgrade einen so großen Schritt gemacht hat?
Waché: Absolut. Sie haben fantastische Arbeit geleistet und sind praktisch auf jeder Strecke schnell. Das Wetter hat ihnen auch ein paar Mal geholfen.
Inwiefern?
Waché: Auf den Rennstrecken, auf denen die Hinterreifen der limitierende Faktor sind, war es in diesem Jahr nie besonders heiß. Das hätte uns in die Karten gespielt. Mercedes, zum Beispiel, ist das genaue Gegenteil. Sie sind extrem stark auf Strecken, auf denen die Vorderreifen mehr gefordert werden.
Red Bull hat in diesem Jahr viele Upgrades gebracht, aber keines mit echtem Fortschritt. Was lief da schief?
Waché: Es wird einfach immer schwieriger, noch Rundenzeit zu finden. Die Entwicklungskurve hat sich für alle stark abgeflacht. Wenn man an einem Fahrzeugkonzept drei Jahre entwickelt, und das Reglement kaum Freiheiten bietet, dann nähert man sich irgendwann dem Limit. Das heißt nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen. Es werden noch ein paar Upgrades kommen.
Es fällt auf, dass viele Teams einen Schritt zurückgehen, weil ein Upgrade nicht den gewünschten Erfolg bringt. Warum ist es so schwierig, den Effekt genau vorherzusagen?
Waché: Es ist sehr einfach, mehr Abtrieb zu finden, aber sehr schwer ihn dort zu platzieren, wo du ihn haben willst. Das erzeugt dann Instabilität. Diese Effekte sind schwer zu korrelieren. Mit diesen Groundeffect-Autos kannst du viele böse Überraschungen erleben.
Ist deshalb das Fenster des Red Bull RB20 kleiner geworden?
Waché: Exakt. Und es ist sehr schwer, das umzudrehen. Wir haben das Konzept des Autos geändert, um das Fenster zu vergrößern, haben uns aber leider ein wenig verirrt. Jetzt sind wir dabei, uns in einigen Dingen zu hinterfragen.
Können Sie anhand der Simulationen voraussagen, dass bestimmte Änderungen am Unterboden in Realität wahrscheinlich Bouncing erzeugen würden?
Waché: Die Simulation wird dir nie genau das anzeigen. Aber wenn du die Daten gut analysierst, kannst du anhand bestimmter Muster antizipieren, dass auf der Rennstrecke dieser Effekt wahrscheinlich eintreten wird.
Sie haben mit Verstappen den wahrscheinlich besten Fahrer im Feld, der viele Probleme überfahren kann. Macht es das schwieriger, bestimmte Defizite am Auto zu erkennen?
Waché: Es stimmt, dass dabei viele Defizite weggefiltert werden. Das kann dazu führen, dass man manchmal ein Problem zu spät erkennt.
Wäre es dann nicht besser, ein Auto zu haben, in dem sich auch Perez wohlfühlt?
Waché: Wir bauen nie ein Auto nach den Wünschen eines Fahrers, sondern immer das schnellste. Würden wir das tun, was Sie vorschlagen, würden sich vielleicht beide Fahrer im Auto wohlfühlen, aber sie wären auch langsamer.
Wird die Entwicklung in der zweiten Saisonhälfte das Auto festlegen, dass wir 2025 sehen, oder bleibt neben der großen Aufgabe 2026 im nächsten Jahr noch Zeit, das 2025er-Auto zu verbessern?
Waché: Das können wir heute noch nicht entscheiden. Wenn wir die Möglichkeit erkennen, nächstes Jahr die Weltmeisterschaft zu gewinnen und es sind noch Entwicklungsschritte dafür notwendig, dann werden wir das tun. Das haben wir 2021 schon so gemacht. Wir schenken nichts her.