Seit dem GP Spanien hat Max Verstappen keinen Grand Prix mehr gewonnen. Eine Serie, die man vor einem Jahr nicht für möglich gehalten hätte. Auch Monza brachte nicht den Umschwung. Im Gegenteil. Teamchef Christian Horner gab zu: "Wenn wir so weiterfahren, verlieren wir beide WM-Titel. Wir haben zurzeit nur das viertschnellste Auto und müssen jetzt zügig die Wende schaffen." Das Wochenende auf der schnellsten Rennstrecke im Kalender war ein Spiegelbild der Turbulenzen, in die Red Bull zuletzt geraten ist.
Verstappen verlor auf die Pole-Position von Lando Norris 0,695 Sekunden. Das ist ein Klassenunterschied, der aber nicht die ganze Geschichte erzählt. Im Q2 sah Verstappen mit der zweitschnellsten Zeit auf gebrauchten Soft-Reifen noch wie ein Kandidat für die Bestzeit aus. Der Red Bull RB20 ist immer noch ein schnelles Rennauto, er ist es nur zu selten. Kleinste Abweichungen vom Normalzustand werfen ihn aus der Bahn.
McLaren ist enteilt
So gewinnt man nicht gegen McLaren, die mit dem MCL38 mittlerweile ein Auto haben, das auf jeder Rennstrecke, auf jedem Reifentyp und bei jedem Wetter schnell ist. Da treffen sich Speed und Konstanz. "Diese Konstanz fehlt uns", bedauert Verstappen. Auch mit Verbündeten sieht es für den Weltmeister bescheiden aus. Mercedes und Ferrari nehmen eher ihm selbst Punkte weg als McLaren. Teamkollege Sergio Perez ist auch keine Hilfe. Der Mexikaner leidet unter dem launischen Auto mehr als sein Teamkapitän: "Max kann mit seinem Talent die Probleme besser umfahren als ich."
Das letzte Rennen mit einem Red Bull in Normalform war der GP China. Seitdem muss Verstappen die Defizite des Autos ausbügeln. Mit jedem Upgrade wurde der Red Bull RB20 launischer. Er hat mehr Abtrieb als zu Beginn des Jahres, aber er nervt seine Fahrer mit einer unberechenbaren Fahrzeugbalance. Auch in Monza. Die Ingenieure versuchten vergeblich, das Auto für alle elf Kurven zu trimmen. Hatte man eine Kurve im Griff, brach das Problem an anderer Stelle wieder auf. "Mal war die erste Schikane unsere Schwachstelle, mal die zweite und dann wieder die Parabolica", verzweifelte Red-Bull-Sportchef Helmut Marko.
Verstappen ist überzeugt, dass der Fehler im Auto selbst liegt. "Mit dem Setup lassen sich die Symptome lindern, aber nicht aus der Welt schaffen." In Monza noch nicht einmal das. Red Bull hatte keinen speziellen Monza-Flügel dabei. Wer dort versucht, das Auto mit mehr Flügel vorne oder hinten zu trimmen, bezahlt an anderer Stelle. Zum Beispiel beim Topspeed. An allen drei Messstellen lagen Verstappen und Perez im hinteren Drittel.
RB20 immer unberechenbarer
Perez erklärt, warum es so schwer ist, die Probleme zu lösen. "Wir haben nicht konstant untersteuern oder übersteuern, sondern beides zusammen in einer Kurve. Untersteuern bis zum Scheitelpunkt und Übersteuern beim Rausfahren. Wenn du an einem Ende reparierst, wird das Problem am andere Ende schlimmer." Eine schlechte Fahrzeugbalance straft die Fahrer auch im Rennen, weil der Reifenverschleiß steigt. Der Red Bull in der Spezifikation des GP China würde laut Verstappen auch keine Rennen gewinnen. "Ein Downgrade für eine bessere Balance ist nicht der richtige Weg. Die anderen Teams haben in der Zwischenzeit ihre Autos aufgerüstet und wären trotzdem schneller. Es ist schwer zu verstehen, warum das bei uns so aus dem Ruder gelaufen ist."
Red Bull räumt aber nicht nur eigene Versäumnisse ein. Man glaubt, dass die Konkurrenz mit ihren Frontflügeln den Geist des Reglements verletzt. Aufnahmen der Nasen-Kameras zeigen, dass McLaren und Mercedes Frontflügel einsetzen, bei denen sich ab einer bestimmten Last zuerst nur die Flaps nach hinten biegen und dann der komplette Flügel um die Horizontale rotiert. So steuert man geschwindigkeitsabhängig perfekt die Balance. Da die Flügel die Belastungstests der FIA bestehen, sind sie legal. FIA-Sportchef Nikolas Tombazis lässt zwar seit Spa die Biegsamkeit der Flügel im Fahrbetrieb untersuchen, doch schärfere Regeln gibt es frühstens 2025. Wenn überhaupt. Red Bull muss wohl oder übel einen ähnlichen Flügel bauen.
Zu viele Abgänge
Marko sieht dringenden Handlungsbedarf: "Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen. Unser Auto ist nicht mehr das, was wir zu Saisonbeginn hatten. Die Ingenieure müssen den Punkt finden, an dem wir falsch abgebogen sind. Das ist nicht einfach, weil es seitdem viele Entwicklungsschritte gab und wir noch keinen Ansatz haben, was genau für welche Reaktion des Autos verantwortlich ist."
Red Bull will bei der Suche nach der Lösung vermeiden, alte Fehler zu wiederholen. Die vier großen Upgrades liefen ins Leere, weil man bei der Suche nach mehr Anpressdruck zu aggressiv war und sich in die Zone begab, in der das Auto auf der Rennstrecke instabil wird. McLaren hat den Luxus, dass man nicht unter dem Druck steht, jeden Entwicklungsschritt auch umzusetzen. "Wenn das Risiko zu groß ist, auf die Nase zu fliegen, halten wir das Upgrade zurück", berichtet Teamchef Andrea Stella.
Ein Grund dafür liegt womöglich auch darin, dass McLaren seit zwei Jahren in einem brandneuen Windkanal arbeitet, Red Bull aber immer noch in einer betagten Anlage testet, die bei Detailänderungen an ihre Grenzen kommt. Red Bull bezahlt auch für die vielen Abgänge aus dem Technikbüro. Aerodynamikchef Dan Fallows zu Aston Martin, Chefdesigner Rob Marshall zu McLaren, Michael Broadhurst zu Alpine, Steve Winstanley zu Williams und Guillaume Cattelani zu Toro Rosso. Technik-Guru Adrian Newey suchte Anfang Mai das Weite und wird bei Aston Martin andocken. Alle hinterlassen Lücken und machen die Konkurrenz stark. "Wir haben sie zu leicht ziehen lassen und uns damit gerechtfertigt, dass sie zu teuer waren. Ab jetzt werden wir wieder um jeden Angestellten kämpfen", fordert Marko.
Wenn sich die Lage nicht bessert, könnte bald auch schon Verstappen von Bord gehen. Der Weltmeister meint trotzig, dass er tue, was in seinen Möglichkeiten liege. Und er baut schon für den Worstcase vor: "Im Moment habe ich es nicht in der Hand. Das Auto gibt mir keine Chance. Ich kann nur Schadensbegrenzung betreiben, aber das bringt uns nicht weiter. Ich will wieder Rennen gewinnen."
Für sein Auto hat er nur Spott übrig: "Wir hatten das dominanteste Auto und haben daraus ein Monster gemacht." Sein Clan setzt bereits lautstark das Technikbüro unter Druck und fordert rasche Besserung. Das sollte Red Bull eine Warnung sein. Nicht für nächstes Jahr, aber für 2026. Ein Insider aus dem Fahrerlager prophezeit. "Wenn Siege ausbleiben, werden Max und die thailändischen Mehrheitseigner nervös. Das könnte das Ende einer Ära sein."