Der neue Red Bull RB20 ist keine Schönheit. Es gibt mehr Kanten als runde Linien. Der extreme Überbiss am Kühleinlass und die beiden Wülste rechts und links der Airbox geben dem Auto ein etwas unbeholfenes Aussehen. Doch wenn Technikguru Adrian Newey den Weg der Ästhetik verlässt, muss er einen guten Grund dafür haben.
Ungewöhnlich ist auch, dass Red Bull sich in einigen Designdetails von Mercedes hat inspirieren lassen. "Wir lassen uns nur vom Windkanal inspirieren", protestiert ein Ingenieur. Toto Wolff antwortet darauf: "Haben wir auch mal gedacht, ist aber leider schiefgegangen."
Dominieren geht nur mit neuem Auto
Die vorgezogene obere Crashstruktur und der darunterliegende vertikale Kühleinlass erinnern genauso an die Mercedes der letzten Jahre wie die Nase, die am Hauptblatt des Frontflügels andockt, und die beiden Rinnen in der Motorabdeckung. Kurioserweise hat Mercedes genau diese Features bei seinem W15 aufgegeben.
Von allen anderen hätte man ein mutiges Konzept erwartet, aber nicht von einem Team, das 21 von 22 Rennen gewonnen hat. "Red Bull hätte sein Vorjahresauto einfach weiterentwickeln können und wäre immer noch vorne mitgefahren", meint einer im Fahrerlager. Doch genau das ist der Punkt: Red Bull will nicht einfach so gewinnen. Der Titelverteidiger will weiter dominieren.
Es war zu erwarten, dass alle anderen den letztjährigen Red Bull auf die eine oder andere Weise kopieren. Zwei Jahre Anschauungsunterricht und viele Red-Bull-Ingenieure, die die Seiten gewechselt haben, halfen dabei, die meisten Geheimnisse des Meisterautos von 2023 zu entschlüsseln. Gegen lauter Red-Bull-Kopien hilft nur ein anderer Red Bull.
Seitenkästen wie zwei Zusatzflügel
Und der RB20 ist tatsächlich ein weiterer Quantensprung. Er sticht aus dem restlichen Feld in vielen Details heraus. Mit der Nasenspitze verließ Red Bull seine alte Konstruktionsphilosophie. Sie ist mit dem Flügelhauptblatt statt dem ersten Flap verbunden. Die Flügelelemente selbst weisen nicht mehr den Bauch nahe der Nase auf, sondern verlaufen relativ gerade und stellen weniger Fläche in den Wind.
Die Seitenkästen sind wie zwei zusätzliche Flügel geformt. Die Luft strömt unter ihnen schneller als oben. Das wurde möglich, indem man den Undercut unter den Seitenteilen von vorne bis hinten durchzog. Das hochgezogene vordere Ende übernimmt die gleiche Aufgabe wie der Venturi-Kanal am Boden. Er zieht die Luft in die schmale Spalte zwischen Seitenkasten und Boden in der Mitte des Autos. Am hinteren Ende der Rampe zeigen die Seitenteile und der Boden wie ein Diffusor wieder leicht nach oben.
Zusätzlich wurden die Seitenkästen nach hinten und damit weiter weg von den Vorderrädern gerückt. Der Platz unter dem vorderen Rand der Seitenteile wurde größer, weil es im Grunde nur eine dünne Carbonstruktur und kein Kühleinlass ist, der Höhe wegnimmt.
Aus einem Unterbiss wird ein Oberbiss
Diese extreme Anordnung war nur möglich mit einer Verlegung der seitlichen Crashstruktur an den Cockpitrand und weiter nach vorne. Im letzten Jahr nutzte Red Bull die Unterlippe als Knautschzone. Diesmal ist es die Oberlippe, die wie beim Mercedes von 2023 direkt in den Seitenkasten übergeht.
Um dann noch alle Kühler in den Seitenteilen unterzubringen und alle kritischen Steuergräte mit Kühlluft zu versorgen, bedurfte es eines völlig neuen Kühlkonzepts. Der Red Bull verteilt die Öffnungen quer über das ganze Fahrzeug. Unter dem Seitenkasten-Vorbau befinden sich ein vertikaler Slot direkt am Chassis. Direkt unter dem Carbon-Dach ist noch ein weiterer flacher Einlass. Die Wasserkühler liegen offenbar fast waagrecht unter der Verkleidung.
Komplett neu ist auch, dass hinter dem Halo-Ansatz am Cockpit zwei Hutzen versteckt sind, die Luft in die beiden Wölbungen unterhalb der Airbox leiten. Sie säubern nicht nur die Strömung hinter dem Cockpit, sondern übernehmen gleichzeitig auch die Funktion von zwei Kühlkanälen. Damit werden Heckflügel und Beam Wing besser angeströmt und können kleiner ausfallen. Der Red Bull war nach dem ersten halben Testtag schon wieder das schnellste Auto auf den Geraden.
Rückte das Cockpit nach vorne?
Das ungewöhnliche Kühlkonzept erforderte den Neubau von Gebläsen, um im Stand in der Box Kühlluft durch die Schächte zu pressen. Normalerweise werden diese Ventilatoren direkt auf die Öffnung gesetzt. Das geht aber bei den verschachtelten und schwer zugänglichen Kühleinlässen nicht mehr. Deshalb muss die Luft vom Gebläse über Schläuche zugeführt werden.
Eine andere Frage ist, ob Red Bull sein Cockpit nach vorne schieben musste, so wie das bei Mercedes 2022 und 2023 der Fall war. Die Position der Crashstrukturen relativ zum Cockpit ist vom Reglement vorgegeben. "Dort, wo die seitliche Knautschzone am Red Bull sitzt, muss das Cockpit eigentlich nach vorne gerutscht sein", vermuten Experten der Konkurrenz.