Wie ein Magnet zieht ein zunächst verborgener Punkt eine Menschenmenge an. Wo immer er sich hinzubewegen scheint, folgen ihm konsequent die gereckten Köpfe und interessierten Rufe. Erst bei genauerem Hinsehen stechen die 1,71 Meter von Fernando Alonso schließlich aus der vibrierenden Masse an Langstrecken-Fans hervor. Egal, was er tut: Der zweimalige Formel-1-Weltmeister steht im Mittelpunkt der Le-Mans-Feierlichkeiten des Jahres 2018. Obwohl die 24 Stunden seit jeher ihre eigenen Ikonen hervorbringen – teils auf Augenhöhe mit den überlebensgroßen Namen der Formel 1 –, zeigte das Debüt des Spaniers eines deutlich: Stars elektrisieren das Spektakel an der Sarthe immer noch ein bisschen mehr.
Historisch war der Motorsport-Marathon jedoch nie darauf ausgelegt, sich mit großen Namen aufzuplustern. Stattdessen sollte das 1923 begründete Rennen die alltagstaugliche Technik und die Party drumherum in den Mittelpunkt stellen – als bewusste Abkehr von der Grand-Prix-Vorgeschichte in der Region.
Beginnender Mythos Le Mans
Die Pionierjahre zwischen den Weltkriegen glichen in der Folge zwar nicht einer Amateur-Veranstaltung. Aber begeisterte Gentlemen wie die ikonischen Bentley Boys waren mehr die Regel als die GP-Stars der Zeit. Was nicht bedeutet, dass Rudolf Caracciola, Tazio Nuvolari und Co. nie die Reise nach Le Mans angetreten hätten. Der "Fliegende Mantuaner" Nuvolari gewann sogar für Alfa Romeo das Rennen im Jahr 1933. Auch deswegen genießt er bis heute bei vielen den Ruf als bester Fahrer der Geschichte. Die Ära der legendären Namen startete zusammen mit der Renaissance der Sportwagen-Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg.
Während sich die Formel 1 erst als Erbin des klassischen Grand-Prix-Sports beweisen musste, erlebten die immer fortschrittlicheren GT-Renner ein rasches Wachstum. Aston Martin, Ferrari, Jaguar und Co. schickten dementsprechend ihr bestes Fahrerpersonal dorthin, wo das meiste Prestige erstritten werden konnte: Le Mans. Für viele Piloten waren die großen Langstrecken-Rennen fester Bestandteil ihrer Jahresplanung. Im Gegensatz zu den heute fürstlichen Gehältern glichen die Fahrer ohne eine sorgenfreie noble Herkunft damals häufig besseren Tagelöhnern.
Das Ende der Allrounder
Besonders in den 1960er-Jahren boten die Felder der Formel 1 und die Startaufstellung von Le Mans so zahlreiche Überschneidungen. Ein perfektes Beispiel ist die Ausgabe 1961. Abseits weniger Ausnahmen hatten alle wichtigen Fahrer der Königsklasse ein Cockpit beim Klassiker gefunden – darunter: Wolfgang Graf Berghe von Trips, Stirling Moss, Jim Clark und Bruce McLaren. Ihnen voraus waren nach 24 Stunden die Ferrari-F1-Stallgefährten Phil Hill und Olivier Gendebien. Das Duo feierte seinen zweiten von insgesamt drei gemeinsamen Le-Mans-Siegen.
Für den US-Amerikaner wurde die Saison 1961 anschließend noch besser. Hill gewann als erster Sohn des "Land of the Free" die Krone der Königsklasse. Seit über 60 Jahren kam kein Pilot dem Glanzstück des Doppelerfolgs im Ansatz nahe. Der Grund hierfür findet sich schon im Laufe der 1970er-Jahre. Durch die massive Professionalisierung und Kommerzialisierung der Formel 1 schrumpfte der Spielraum für ihre nun auch so genannten Stars mit jedem Jahr mehr. Aus den vormals bunten Programmen, zu denen häufig Auftritte in US-Serien und in kleineren Formel-Rennen gehörten, wurden die modernen Exklusivitäts-Klauseln.
Heroes made in Le Mans
Auf Höhepunkte wie Graham Hills im Jahr 1972 vollendete Triple Crown nach vorherigen Siegen in Monaco und beim Indy 500 – zur damaligen Zeit im Übrigen nur eine Randnotiz – und die Husarenritte von Jacky Ickx folgte das Zeitalter der Langstrecken-Spezialisten. Viele brachten jedoch eine Formel-1-Ausbildung mit.
Andersherum gab es auch regelmäßig den Fall, dass aufstrebende Piloten die Langstrecke als Sprungbrett nutzten. Noch vor ihren ersten Grands Prix hatten beispielsweise Heinz-Harald Frentzen, Damon Hill und Michael Schumacher schon die Feuertaufe in der Sarthe bestanden. Wieder andere folgten einem Credo, welches der Überlieferung nach vom Weltmeister Emerson Fittipaldi stammen soll: "Le Mans ist ein Rennen für Autos, nicht für Fahrer. Ich werde nie dort starten." Sein Verlust.
Das gegenwärtige Verhältnis von Le Mans und seinen Stars gestaltet sich ambivalent. Obwohl durchaus internationale Größen wie der amtierende IndyCar-Champion Álex Palou 2024 genannt sind, handelt es sich bei den meisten Stars entweder um Szene-Ausnahmekönner oder Piloten, die bereits ihre Lorbeeren verdient haben. So entdeckten zahlreiche F1-Fahrer zuletzt wieder einen lukrativen zweiten Karriereweg in der Sportwagen-WM. Die Fallbeispiele von Nico Hülkenberg im Jahr 2015 und Fernando Alonso im Jahr 2018 zeigten zwar, dass beides in einer Saison funktionieren kann. Aber mit reichlich Aufwand und noch größeren Kompromissen verbunden ist. Dementsprechend vertrösten Verstappen, Leclerc und Co. gerne mit der Floskel: "Eines Tages…"
Kino ohne Leinwand
Wie vor bald 70 Jahren macht der Marken-Boom Le Mans aber wieder zu einer rennsportlichen Traumreise. Jenson Button, der vor zehn Jahren dem Rennen in Interviews noch eine schroffe Abfuhr erteilte, erklärt mittlerweile: "Jeder denkt, Le Mans ist nur ein Langstrecken-Lauf, und alle nehmen es leicht, aber das ist ein Trugschluss. Hier geht es 24 Stunden lang zur Sache. Und danach will man weinen – sei es aus Freude, aus Frust oder einfach nur aus Erleichterung nach dem Ankommen."
Für den Film-Fan ist wenig überraschend Steve McQueens "Le Mans" dabei die Inspiration. Obwohl der Schöpfer des laut Button "einzigen total realistischen Rennfilms" nie selbst teilnahm, prägte er ein weiteres Genre von Stars bei den 24 Stunden – die, die dort gar keine sein wollen. Allen voran Paul Newman, Patrick Dempsey und Michael Fassbender versuchten sich an der echten Herausforderung. Wie bei den rennsportlichen Stars war der größte Gewinner am Ende das Rennen selbst.