Großvolumige V8-Motoren, Ovale und reichlich amerikanischer Pathos – bis heute wird der NASCAR nachgesagt, eines der letzten traditionellen Motorsport-Formate zu sein. Doch auch in der Szene der donnernden Achtzylinder konnte man sich dem Druck der automobilen Transformation in den letzten Jahren nicht verschließen und setzte zuletzt mehrere umfangreiche Reformen in Gang.
Die seit 2022 genutzte Auto-Generation ("Next Gen") brach mit etlichen historischen Standards der ersten Liga namens "Cup Series". Einheitsbauteile senkten die Kosten der Renner von Chevrolet, Ford und Toyota deutlich. Im Zuge der Vereinheitlichung debütierten unter anderem 18-Zoll-Räder samt Zentralverschluss, Einzelradaufhängungen an der Hinterachse, ausgeklügelte Diffusoren und stärkere Bremsen. Was in der restlichen Rennsport-Welt seit Jahrzehnten Standard ist, galt im 75-jährigen NASCAR-Kosmos als Revolution.
E-Rahmenserie statt Hybrid?
Schon bei der Planung für die neuen Renner ließ die "National Association for Stock Car Auto Racing" Raum für eine Elektrifizierung. Mark Rushbrook, Motorsport-Chef von Ford, beschrieb: "Der Aufbau von Front und Heck gibt uns große Flexibilität bei der Fahrzeug-Architektur. Der erste Schritt mit der Einführung des Hybrids wird damit relativ einfach sein, da man den Verbrenner leicht um die elektrischen Komponenten erweitern kann." Ursprüngliche Pläne visierten ein Hybrid-Debüt sogar für die jetzige Saison an. Doch Lieferkettenprobleme und die weltpolitisch instabile Lage machten das Prestigeprojekt jüngst zu einer Randnotiz.
Während es um die Hybride also ruhiger wurde, betonte die NASCAR regelmäßig, eine elektrische Rahmenserie auf den Weg bringen zu wollen. Im Gespräch mit auto motor und sport erklärte Steve O’Donnell, Chief Operating Officer der NASCAR, vor zwei Jahren: "Da sich die Automobilindustrie immer weiterentwickelt, machen auch wir uns viele Gedanken. Vor allem die Idee einer vollelektrischen Vorführserie schauen wir uns genau an. Wir arbeiten eng mit den Herstellern bei der Entwicklung zusammen und können vielleicht schon im nächsten oder übernächsten Jahr etwas auf die Beine stellen. Der erste Plan sieht sechs Rennen vor."
Elektro-Racer mit massiver Leistung
Vor dem Stadtkurs-Wochenende in Chicago – ebenfalls eine historische Zäsur – präsentierte die NASCAR nun offiziell den lange angeteaserten Prototyp. Auf Basis der Next Gen, deren radikalster Ableger im letzten Jahr die Fan-Herzen von Le Mans erobert hatte, entwarfen die NASCAR-Techniker die erhoffte Elektro-Zukunft. In Absprache mit den Herstellern Chevy, Ford und Toyota fiel die Entscheidung auf ein Crossover-Design. Die gewünschte straßennahe Optik wird von einem hoch aufragenden Heckflügel konterkariert.
Bei den technischen Daten orientierten sich die Ingenieure am Brutalismus der Verbrenner. In der Spitze soll der "ABB NASCAR EV Prototype" 1.000 kW, also rund 1.360 PS, leisten. Ein Antrieb an der Front und zwei im Heck machen das E-NASCAR zum Allrad-Racer. Die 6-Phasen-Motoren stammen vom Spezialisten STARD. Sie setzen 78 Kilowattstunden aus einer flüssigkeitsgekühlten Batterie in Vortrieb um. Nicht nur das Chassis, sondern auch die Lenkung, Aufhängung, Bremsen und Räder basieren auf der Technik-DNA der Next Gen. Für die Silhouette werden nachhaltige Verbundwerkstoffe genutzt.
Weitere Daten:
Länge: 4,71 Meter (rund 20 Zentimeter kürzer als die Next Gen)
Breite: 2 Meter
Höhe: 1,42 Meter
Radstand: 2,79 Meter
Gewicht: 1,81 Tonnen (rund 240 Kilogramm schwerer)
Das sagt der Testfahrer
Obwohl das Projekt Anfang Juli erst vorgestellt wurde, hatte der Testträger davor schon etliche Meilen abgespult. David Ragan, Sieger des Sommerklassikers von Daytona 2011, berichtete amerikanischen Medien zu seinen Erfahrungen: "Ich habe schon als Kind das Fahren mit Handschaltern gelernt. Jetzt gibt es zwar zumindest noch Wippen, die aber nur für das Wechseln in den Rückwärtsgang sind – klassische Gänge sucht man vergeblich. Dementsprechend fehlt auch die Kupplung." Das rustikale Herausbeschleunigen der aktuellen NASCAR-Renner geht damit verloren. "Das Auto fährt in einem Zug weg."
Unter anderem fuhr Ragan auf dem Halbmeiler Martinsville Speedway Übungsrunden. Die sogenannten "Short Ovals" und Rundkurse würden die Basis einer Rahmenserie stellen, zu der es laut der NASCAR aktuell aber keine neuen Planungen gibt. Highspeed-Ovale wie Daytona oder Talladega würden nicht nur das Wärme-Management an die Grenzen bringen, sondern auch mangels signifikanter Rekuperation die Rennlängen stark eindampfen. "Die Rekuperation hat einen echten Einfluss auf das Bremsverhalten. Wir konnten es derart aggressiv einstellen, dass nur ein Tipper auf das Pedal reichte, um das Auto zum Stillstand zu bringen."
Was technisch beeindrucken kann, ist im Oval-Sport jedoch nicht zwangsläufig hilfreich. Ragan erzählte zu seinen Erkenntnissen aus Martinsville und Co.: "Daran musste ich mich länger gewöhnen, denn bei uns geht es darum, das Auto rund durch die Kurven zu rollen. Wenn man zu viel Geschwindigkeit bei den aktuellen Autos draufhat, reicht leichtes Bremsen. Beim EV ist das Fenster für Korrekturen durch die Effizienz der Systeme viel spitzer."
Lenkrad auf IndyCar-Niveau
Die diversen Einstellungsmöglichkeiten brachten eine weitere Revolution mit sich. Im Vergleich zu den bis heute sehr simplen runden Lenkrädern der NASCAR-Ligen gleicht das Volant des Prototyps den Gegenstücken aus Formel- oder Prototypen-Serien. Ragan zählte 15 Knöpfe, um beispielsweise das Drehmoment anzupassen. Ungewohnt ist wenig überraschend auch die Sound-Kulisse. "Ich konnte erstmals richtig hören, wie sich die Reifen verhalten. Normalerweise merkte ich ihre Vibrationen durch das Lenkrad und den Sitz."
"Plötzlich stehen das Hören und das Fühlen in Konkurrenz miteinander. Darauf muss man sich etwas länger einstellen." Wie lange würden aktuelle Cup-Fahrer brauchen, um sich auf den E-Renner einzuschießen? "Es erinnert mich an den Sprung in die Next Gen. Einige sind schneller beim Eingewöhnen, andere werden sich schwertun. Die besten Piloten dürften sich auch hier schlussendlich durchsetzen."
Ob aus der Theorie Praxis werden wird, ist – Stand jetzt – unwahrscheinlich. Zwar hat die NASCAR mit dem Schweizer Weltkonzern ABB einen starken Unterstützer aus der Elektro- bzw. Lade-Industrie und das Ziel, "bis 2035 den Fußabdruck auf null zu senken." Doch die teils krachende Fankritik zeigt, dass im Moment abseits der Industrie wenig Interesse besteht. Die Offiziellen beruhigten: "Wir sind der historischen Rolle des Verbrenners verpflichtet. Ein Fokus unserer Erneuerung liegt auf der operativen Seite." Somit bleibt das Elektro-Stockcar vorerst ein Aushängeschild.