Thierry Neuville ballt die Fäuste, nachdem er das Ergebnis der letzten Prüfung gesehen hat. Vollgepumpt mit Adrenalin schreit der Mann aus St. Vith seine gelöste Anspannung in die Fernseh-Kamera. In der Hyundai-Hospitality, wo man sich nach dem Sieg vor ein paar Wochen in Portugal selig in den Armen lag, springen die Himmelblauen ausgeflippt auf und nieder. Das hier war nicht einfach ein weiterer Sieg auf dem Weg zum ersten Titel. Die Rallye Sardinien 2018 war ein Kampf zweier Schwergewichte mit einem fulminanten Niederschlag des Herausforderers in letzter Sekunde.
Es ist nicht so, dass es für Tabellenführer in Sardinien unmöglich ist zu gewinnen, aber im Normalfall ist die Insel dazu prädestiniert, Verfolger und Hinterbänkler gut aussehen zu lassen. Die feine Sandauflage bietet dem Ersten auf der Strecke wenig Haftung, erst darunter findet sich fester Halt. Wer von der Ideallinie abkommt, hängt meist unmittelbar in etwas Solidem wie den zahllosen Felsen, die sich aus dem Inland erheben. Wer etwas zu verlieren hat, nimmt sich hier besser etwas zurück.
Ogier mit Fehlkalkulationen
Aber 2018 ist alles anders. Im Mittelmeerraum haben tagelang schwere Gewitter getobt. Das sonnige Sardinien zeigt sich auch bei Rallyebeginn noch grau, die Streckenpräparation des Veranstalters war vergebene Mühe.
Sébastien Ogier verliert auf noch unberührten Pisten anfangs mehr Zeit als der vor ihm fahrende Rivale Neuville, er will erst einmal abwarten, die Rallye ist noch lang. Es ist die erste Fehlkalkulation an diesem Wochenende. Als es am Freitagnachmittag erstmals über gebrauchte Pisten geht, haut Ogier dem gesamten Feld ansatzlos aufs Maul – aus 23 Sekunden Rückstand und Rang 5. Auf Neuville hatte er zuvor neun Sekunden Rückstand, nun sind es 8,5 Sekunden Vorsprung. Das Resultat führt zu Ogiers zweiter Fehleinschätzung, dass ihn wie gewohnt niemand aufhalten kann, wenn er ernst macht.
Bis nach der elften von 20 Prüfungen hat er den Vorsprung auf Neuville bis auf knapp 20 Sekunden ausgebaut, alles läuft nach Plan – scheinbar. Es geht zum Monte Lerno mit seiner berühmten Sprungkuppe „Micky’s Jump“. Die sieht wüst aus, ist aber eher harmlos, die dicken Felsbrocken dagegen nicht. Sie sind auch Grundsteine für Ogiers Niederlage.
Der Filigrantechniker am Volant mag harte Prüfungen nicht besonders. Ogier geht die knapp 29 Kilometer verhalten an, sollen sich doch die anderen die Autos zuschanden fahren. Als Ogier im Ziel auf die Uhr guckt, stellt er verdattert fest, dass ihm Neuville mit einem Parforce-Ritt 14,6 Sekunden abgenommen hat, plötzlich ist der Belgier nur noch knapp fünf Sekunden hinter ihm. Ogier hat beim Start den Motor abgewürgt und murmelt im Ziel etwas Unverständliches vor sich hin, was sich wie „wrong Design“ anhört. Immerhin war sein Ford Fiesta gut genug konstruiert für drei Saisonsiege und die Führung bis hierher. Technikchef Chris Williams räumt ein, dass Ogier anschließend die Abstimmung ändert, betont aber, es sei nichts Weltbewegendes gewesen. Es war eher das Mapping im Kopf, das nicht passte.
Neuville setzt nach und siegt
Neuville dagegen führt sich nach diesem schweren Wirkungstreffer plötzlich auf wie Ogier zu seinen besten Zeiten. Sofort setzt er nach. Selbst auf den 1,4 Mickymaus-Kilometern von Ittiri nimmt ihm Neuville zwei Sekunden ab. Der angeknockte Champion wehrt sich: Bestzeit, 3,9 Sekunden schneller als Neuville. Samstagnachmittag ist der Zeitpunkt, wo der Vizeweltmeister gern mal einen Flüchtigkeitsfehler macht, aber nichts dergleichen passiert, stattdessen schlägt Neuville jetzt Kombinationen. Monte di Alba: Bäng, nur noch 4,3 Sekunden, wieder Monte Lerno: Zack, nur noch 3,9.
Am Sonntag sind noch vier Prüfungen mit 42 Kilometern zu fahren. Für die größeren Abbrucharbeiten am Denkmal Ogier hatte Neuville am Vortag den Vorschlaghammer geschwungen, nun greift er zum Trennschleifer: Acht Zehntel in Cala Flumini, 1,8 Sekunden in Argentera. Die spätere Powerstage ist mit knapp sieben Kilometern nur halb so lang wie die Prüfung davor, Neuville holt dort aber mehr als doppelt so viel Zeit.
Ogier hat zwei Probleme: „Hier muss man sehr hart mit dem Auto umgehen und kämpfen“, klagt er. Tatsächlich mutet die steile Bergabpassage von Sassari mit ihren tiefen Sandfurchen eher wie eine Dakar-Prüfung an als wie eine WM-Strecke. Die Verantwortlichen haben die selbst für sardische Verhältnisse außergewöhnlich weiche Strecke gewählt, weil sie hinunter zum Meer führt und damit besonders appetitliche Fernsehbilder liefert. Außerdem führt das tiefe Geläuf bei der geringsten Unachtsamkeit zu Fehlern, die entscheidend sein können. Ogiers zweites Problem erklärt der stellver- tretende Chefingenieur Massimo Carriero: „Immer wenn es sehr wenig Grip hat, haben wir Schwierigkeiten.“
Weil Ogier es nicht im Sandkasten von Argentera II zum Äußersten kommen lassen will, ist sein Plan, den Sack in der vorletzten Prüfung zuzumachen. Angesprochen auf seine nur noch 1,3 Sekunden Vorsprung sagt er nach der 18. Prüfung frech grinsend: „Knapp, oder?“
Ogier schenkt auf Prüfung 19 tatsächlich dem gesamten Feld ordentlich ein, nur nicht Neuville. Der ist noch eine halbe Sekunde schneller, womit Ogier vor dem Finale lächerliche acht Zehntel Vorsprung bleiben. Der Weltmeister zeigt Nerven: Kein Interview an der Zeitkontrolle. Und auch Beifahrer Julien Ingrassia, der Mann, der sonst hochkonzentriert an das kleinste Detail denkt, ist durchgeschüttelt. Am Zeitnahmetisch reicht man den Besatzungen im jetzt wieder sommerlich heißen Sardinien Wasserflaschen. Als Ingrassia Ogier grünes Licht zum Weiterfahren gibt, merkt er nicht, dass die Bordkarte noch an der Zeitkontrolle liegt.
M Sport will Punkte einklagen
Ohne Bordkarte gibt es im Ziel nur eine Konsequenz: Wertungsausschluss und null Punkte. Und es ist schon zu spät, um ohne Zeitstrafe zurückzukehren. Das französische Duo hat Glück, dass sich ihre Vorjahres-Teamkollegen erbarmen. Ott Tänak und Martin Järveoja bringen das kostbare Stück Pappe mit, sodass Ingrassia es rechtzeitig zum Regrouping vorlegen kann, allerdings sollte die Bordkarte laut Regelwerk schon im betreffenden Auto transportiert werden.
Neuville denkt, die Sache habe dennoch ein Nachspiel für die Konkurrenz, und damit liegt er nicht falsch. Aber die Sportkommissare unter Führung der Deutschen Waltraud Wünsch lassen nach der Rallye Gnade vor Recht ergehen: Ja, es gibt 22 Punkte Abzug für Rang 2 in Gesamtwertung und Powerstage, aber nur auf Bewährung. Ingrassia nimmt den Fehler auf seine Kappe und wohl auch die Strafe: 10.000 Euro muss der Multimillionär aus der Portokasse zahlen.
Auf die Frage, ob Hyundai in der Ogier-Sache noch ein juristisches Nachspiel anzetteln wolle, reagiert Teamchef Michel Nandan unwirsch: Man solle sich doch auf Seiten der Medien bitte nicht so sehr auf das Negative konzentrieren und das Sportliche in den Vordergrund stellen.
Wenn auch die Bordkarten-Affäre ihren Platz in den Annalen finden wird – der Sieg von Thierry Neuville wird deutlich dicker in den Geschichtsbüchern vermerkt. Der Tabellenführer schwor, er wolle auf keinen Fall ein unnötiges Risiko eingehen, aber in Wahrheit rutschte und sprang der i20 durch die Rillen und Löcher wie kein anderer. Neuville rasierte die Büsche rechts, riss links ein Werbebanner von der Leine, und einmal blieben den vor den Monitoren hängenden Mechanikern fast die Herzen stehen, als das Auto auf zwei Rädern aus einer Rechtskurve kam. Das ruppige Buschwerk schubste den Hyundai zurück ins Gleichgewicht. Was soll’s, gewagt und gewonnen. Ogier, der König der Powerstages, war am Ende wie so oft besser als die restliche Weltelite, nur Neuville war noch 1,4 Sekunden schneller und damit auf den letzten Metern der Rallye zum ersten Mal ganz vorn. Sieben Zehntel reichten zum neunten und schönsten WM-Sieg.
Bei nun 27 Punkten Rückstand muss Ogier auf den verbleibenden sechs Rallyes nach der Sommerpause einiges riskieren, um seine Krone zum fünften Mal in Folge zu verteidigen. Um seine Last zu mindern, will M-Sport anders als Hyundai durchaus noch mal juristisch werden. Die Chance, dass man um die in Mexiko wegen einer angeschubsten Schikane verlorenen vier WM-Punkte vor einem Zivilgericht weiterkämpft, beziffert Malcolm Wilson auf 99 Prozent. Ähnlich hoch sieht er allerdings auch das Risiko, abermals den Kürzeren zu ziehen. Vor dem FIA-Sportgericht hat M-Sport Ende Mai bereits verloren. Der Teamchef sieht die Sache nüchtern: „Es war uns vorher klar, dass die Chancen sehr gering sind, aber wir müssen alles versuchen.“