Eigentlich hatte sich Hubert Drescher auf die Restauration und den Wiederaufbau von Karosserien spezialisiert. Der Auftrag, den der Oldtimer-Experte in Titisee-Neustadt am 16. November 2007 bekam, war ganz anders. Er sollte einen Lohner-Porsche aus dem Jahr 1900 nachbauen: das erste Hybrid-Modell der Welt, mit Frontantrieb und Elektro-Radnabenmotoren.
Nachbau des Lohner-Porsche erfordert Detektivarbeit
Leichter gesagt als getan. Die erste Erkenntnis: Ferdinand Porsche hatte über den Lohner-Porsche nicht allzu viel aufgeschrieben und noch weniger hinterlassen. Das Porsche-Archiv? Eine Fehlanzeige. Erst nachdem alle Neukonstruktionen abgeschlossen waren, konnte eine Zeichnung des Lohner-Porsche bei einer Auktion ersteigert werden. Aber Schwarzwäldern sagt man nach, sie seien sture Schädel.
Drescher mutierte vom Karosseriebauer zum Meisterdetektiv: In Budapest fand er im Technischen Museum einen Radnabenmotor, den er „aber nur anschauen durfte“, so Drescher. Im Deutschen Museum in München entdeckte er nichts. Dafür gab es in Wien eine Motorkutsche, die ihm wenigstens einige Hinweise auf den Rahmenaufbau lieferte. Und beim Deutschen Patentamt hatte Porsche zumindest 1903 hinterlassen, wie er den Strom im Lohner-Porsche mechanisch regeln wollte.
Traumhafter Wirkungsgrad von 83 Prozent
Eine eher dünne Ausbeute. Aber Drescher, der mittlerweile von Wolfgang Ertl, dem ehemaligen technischen Leiter einer Papierfabrik, unterstützt wurde, entdeckte nützliche Informationen über den Lohner-Porsche in Büchern. Beispielsweise Fotos der Hybrid-Kutsche. Technisches Hintergrundmaterial fand das Duo im „Automobiltechnischen Kalender“ oder in einem Technikband von E. Arnold mit dem Titel: „Die Gleichstrommaschine“.
Es gab grundsätzliche Abhandlungen, aber keine klaren Bauanweisungen. Denn Porsches „Außenläufer wird in der Literatur nicht beschrieben“, so Ertl. Dafür war Jungkonstrukteur Porsche mit seinem „transmissionslosen Wagen“ zum Jungstar der Konstrukteurs-Riege aufgestiegen. Er hatte einen Antrieb gebaut, der ohne mechanische Reibungsverluste mit einem traumhaften Wirkungsgrad von 83 Prozent arbeitete.
Lohner-Porsche oder der „immer Lebendige“
Zunächst präsentierte er der staunenden Fachgemeinde auf dem Pariser Autosalon eine Elektro-Kutsche. Im selben Jahr schob er ein Hybrid-Modell nach: den „Semper Vivus“, den „immer Lebendigen“. Es war damals ein Duell, das wir heute wieder erleben: Verbrennungsmotor gegen Elektroantrieb. Und die Probleme gleichen sich. Bei reinen Elektroautos waren die Batterien zu schwer. Was bei den ersten Luftreifen immer wieder zu gefährlichen und lästigen Platzern führte. Porsche kombinierte deshalb Verbrennungsmotor und Elektroantrieb – und baute den ersten seriellen Hybrid mit kleineren, leichteren Batterien. Und mit Frontantrieb und Radnaben-Motoren, ohne jede Antriebswelle und ohne Getriebe, die damals anfällig und so schwer zu bedienen waren, dass sie jeden Chauffeur zur Weißglut brachten.
Apropos Chauffeur. Der Semper Vivus oder Lohner-Porsche drohte diese Gilde arbeitslos zu machen. Denn eigentlich brauchte die feine Gesellschaft den Fahrer damals, um den Benzinmotor anzukurbeln. Porsche hatte auch daran gedacht: Seine beiden Einzylinder starteten die Generatoren, wenn man sie auf Dynamo-Start schaltete. Bei den Verbrennungsmotoren gab es 1900 aber ohnehin Engpässe. Weshalb Porsche zunächst ein reines Elektro-Auto baute und dann für den Hybrid Semper Vivus auf zwei De Dion-Bouton- Motoren zurückgriff.
Kommissar Zufall eilt zu Hilfe
Und auch Drescher bekam 110 Jahre später mit den Verbrennern des Lohner-Porsche wieder seine Nöte. Er fand zunächst keine Ur-Motoren. In der Not kaufte er einen Kemper-Einzylinder aus der damaligen Zeit, der als Vorlage für die Nachbauten dienen sollte. Als schließlich die fertigen Guss-Rohlinge bereitlagen, kam aber Kommissar Zufall ins Spiel. Drescher, der gern französische Teilemärkte besucht, stolperte in Straßburg über einen originalen De Dion-Bouton-Einzylinder.
Und der zweite? Den fand Klaus Bischof, der Leiter des mobilen Porsche-Museums, nach einem Goodwood-Wochenende im englischen Alfold bei Austin Parkinson, der neben einem Komplettmotor auch noch ein paar nützliche Ersatzteile für den Lohner-Porsche lieferte. Die beiden Einzylinder sitzen jetzt fein rausgeputzt vor den Fond-Passagieren und laden die Generatoren unter der Fahrerbank.
Erste Vierradbremse der Geschichte im Lohner-Porsche
Unter den Passagieren befinden sich im gefederten Holzkasten des Lohner-Porsche auch die beiden Batterie-Pakete: 44 Blei-Gel-Zellen, die aus dem Gabelstablerbau stammen und insgesamt 88 Volt leisten. Der Fahrer des Semper Vivus hat kein Gaspedal. Beschleunigt wird über einen rechts neben dem Fahrersitz stehenden Fahrhebel, der in einer feinen Kulisse bewegt wird. „Ziffern und Buchstaben entsprechen der damaligen Schreibweise“, verrät Drescher. Es gibt drei Fahrstufen. Dazu eine Bremsstufe, die Neutralstellung und einen Rückwärtsgang, bei dem der Anker einfach umgepolt wird.
Die eigentliche Steuerzentrale sitzt direkt unter dem Fahrer: eine Schaltwalze oder, neudeutsch, ein Controller. Der Semper Vivus war beim Antrieb und der Verzögerung ein Pionier. Es gab die Elektrobremse an den Vorderrädern und breite Lederbremsbänder an den riesigen Vollgummi-Hinterrädern. Die erste Vierradbremse der Geschichte. Dazu eine Handbremse mit schmalen Lederbändern und das so genannte „Gesperr“, Sperrklinken an den Hinterrädern, um ein Zurückrollen am Berg zu verhindern.
Lohner-Porsche mit großem Auftritt auf dem Genfer Autosalon
Der Semper Vivus hat sein erstes Roll-out auf dem Porsche-Skidpad in Weissach absolviert. Nächste Etappe ist der VW-Konzernabend auf dem Genfer Automobilsalon. Danach dürfte es an die Feinabstimmung des Fahrwerks gehen. Denn der Lohner-Porsche war einst bei seinen wohlhabenden Kunden für seine hohe Fahrsicherheit bekannt. Und auch die Presse lobte: „Der Wagen zeigt kein Schleudern in scharfen Kurven oder auf glattem, kotigen Pflaster, oder zumindest nur für Augenblicke, ganz wie beim Pferdebetrieb, bei welchem das Schleudern äußerst kurz und nur selten peinlich fühlbar wird.“ In der Tat konkurrierten die Motor-, Hybrid- oder Elektrokutschen in der damaligen Zeit mit den Pferdekutschen.
Der Lohner-Porsche-Hybrid Semper Vivus war nur ein Prototyp, aber spätere Hybridmodelle waren teurer als Kutschen mit reinen Verbrennungsmotoren – da hat sich bis heute nichts geändert. Bei einer jährlichen Fahrleistung von 5.000 Kilometern kostete, umgerechnet auf die heutige Zeit, ein Chauffeur rund 8.000 Euro. Dazu kamen über 10.000 Euro für Reifen – zumindest wenn man bereits von den Holz- und den Vollgummirädern auf die Luftpneus umgestiegen war. Diesen Komfort schätzte die wohlhabende Klientel an den Porsche-Konstruktionen. Und noch etwas gefiel den Kunden am Lohner-Porsche: die hohe Verarbeitungsqualität. Und die liegt auch Hubert Drescher am Herzen.
Wert des Hybrid-Nachbaus liegt bei rund 650.000 Euro
Er verweist nicht ohne Stolz auf die Karosserie aus Holz und Sackleinen: „Man darf nicht sehen, dass es eine Rekonstruktion ist.“ Oder auf den Lack des Volt- und Amperemeters im Cockpit des Lohner-Porsche. „Der darf nicht neu aussehen.“ Oder auf die Trittstiegen, „die sind fein mit Körnerschlägen bearbeitet“. Mindestens 2.000 Stunden wurde am Semper Vivus in der kleinen Werkstatt in Titisee-Neustadt gearbeitet. Früher kostete ein Lohner-Porsche umgerechnet rund 35.000 Euro, die Replica mit all der Recherche, der Neukonstruktion und den aufwendigen Nachbauten dürfte bei 650.000 Euro liegen.
Dafür ist mit dem Semper Vivus ein Stück Zeitgeschichte neu erstanden. Ferdinand Porsche, der geniale Konstrukteur, hat nicht nur die Auto Union-Rennwagen oder den VW Käfer gebaut. Er hat vor 110 Jahren in Kutschen Techniken realisiert, die heute bei den knapper werdenden Erdölressourcen wieder en vogue sind: den Hybrid- und den Elektroantrieb. Und schon damals, als er auf der Wiener Berggasse die Steigfähigkeit seiner Elektro-Kutschen testete, wehrte sich die Wiener Highsociety gegen die Benzinmodelle: „Vergönne man uns doch den letzten Rest von Sauerstoff und genießbarer Luft, welcher von den Verbrennungsprodukten der etwa in großer Anzahl auftretenden Benzinmotoren erbarmungslos verdorben würde.“ Es hat sich nicht viel geändert, außer dass man nicht mehr auf dem Kutschbock sitzt – und das Auto meist selbst chauffiert.