Zu sagen, es regnet, wäre stark untertrieben. Es schüttet abwechselnd senkrecht aus Kübeln oder das Wasser fegt in nadelspitzen Tropfen waagerecht vors Auto. Das Wetter macht gleich am Morgen klar, dass mit Besserung heute nicht zu rechnen ist. Das Tal des Columbia-River nördlich von Portland kann sicher ganz idyllisch sein. Wälder und saftige Wiesen wechseln sich am Ufer ab. Dazwischen eingestreut immer wieder Farmen mit hübschen, rot gestrichenen Scheunen.
George Vancouver sorgt für Verwirrung
Wir haben mittlerweile wieder den Staat gewechselt und sind verwirrt. Der erste Tankstopp war in Vancouver, dabei wollten wir da erst morgen hin. George Vancouver erkundete im 18. Jahrhundert für die britische Marine die Nordwestküste Amerikas. Nach ihm ist das Fort benannt, das einst die Oberaufsicht über 34 Außenposten im Nordwesten hatte und um das sich der heutige Ort gebildet hat. Dieses Vancouver liegt allerdings nicht in Kanada, sondern in den Vereinigten Staaten, weshalb Hinweisschilder Richtung Kanada die Aufschrift "Vancouver B.C." tragen. Die letzten Buchstaben sind die Abkürzung für den kanadischen Bundesstaat British Columbia.
Extraspur für Fahrgemeinschaften
Um die Verwirrung zu steigern bildete das amerikanische Vancouver anfangs den Zielort des berühmten Oregon-Trails. Es liegt aber keineswegs in Oregon, sondern im Bundesstaat Washington, der übrigens kaum weiter von der gleichnamigen Hauptstadt der USA entfernt sein könnte. Washington State liegt im äußersten Nordwesten, während der nach dem Unabhängigkeitskrieger und ersten US-Präsidenten George Washington benannte Regierungssitz an der südlichen Ostküste im Bundesstaat Maryland beheimatet ist. Zur Unterscheidung trägt die Hauptstadt den Zusatz D.C., was District of Columbia bedeutet. Die Stadt Washington liegt aber nicht einmal ansatzweise in der Nähe des Columbia-River, am Capitol fließt vielmehr der Potomac vorbei. Können Sie noch folgen?
Wir folgen mittlerweile der Fastlane, die eine grandiose amerikanische Erfindung ist. Der Verkehr auf der Interstate 5 entlang der Industrie- und Hafenstadt Tacoma hoch nach Seattle ist schon am frühen Nachmittag beachtlich. Wer allerdings mindestens zu zweit im Auto sitzt, darf die ganz linke der fünf Spuren benutzen, die ausschließlich für Fahrgemeinschaften reserviert ist. Wir sind sogar zu dritt. So versucht Amerika sein Volk zu erziehen, nicht pausenlos für alles und jedes ins Auto zu springen und allein die Straßen zu verstopfen und die Luft zu verpesten.
Amerikaner lassen sich ungern erziehen
Während die überwältigende Mehrheit mit 30 Meilen dahinzuckelt, geht es ganz links mit 60 Meilen dahin. Die Fastlane ist nahezu leer, die Amerikaner lassen sich sehr ungern erziehen, zudem müssen manche vermutlich einfach ganz woanders hin als alle anderen. Wie oft haben wir auf deutschen Autobahnen gewünscht, es gäbe eine verborgene freie Spur ganz links, mit der wir ruckzuck in die Freiheit entfliehen können. Vor lauter Begeisterung über den wahr gewordenen Traum verpassen wir in Seattle die Abfahrt. Das elektronische Roadbook Tripy schlägt Alarm, aber das Problem ist scheinbar leicht zu lösen, das daneben positionierte Tomtom verspricht kurz danach eine Abfahrt nach links hinunter ins Stadtzentrum.
Und so kann eine falsche Entscheidung innerhalb einer Sekunde eine Verzögerung von einer Stunde ausmachen. Wir sind nun auf dem Northbound, einer Schnellstraße, die Seattle auf zwei Ebenen durcheilt und zwar ohne eine einzige Ausfahrt. Tomtom fordert dennoch vehement, dass wir uns links in die Leitplanke werfen, um den Durchbruch in die City zu schaffen. Nachdem wir diesen Befehl verweigert haben, plädiert es für einen schnellen Haken nach rechts hinten. Die empfohlene Wende hätte zweifellos zu einem Frontalunfall mit mindestens drei Toten geführt.
Auf den Spuren von Tom Hanks und Nirvana
So spuckt uns der Northbound am Ende stinkig, aber lebendig am Nordende der Stadt aus, wo ausgedehnte Wohngebiete auf den Hügeln von fast überall Meerblick versprechen. Unten liegen reihenweise Segelyachten und einige Hausbootkolonien. Von so einem zog Tom Hanks in "Schlaflos in Seattle" aus, um Meg Ryan zu erobern.
Obwohl Seattle in der Statistik mit den meisten Regentagen geführt wird, gehört es nach Umfragen regelmäßig zu den Städten mit der höchsten Lebensqualität. Kein Wunder, in der liberalen Nordwestmetropole entdeckte man, dass Kaffee nicht nur gefärbtes Wasser sein muss, sondern auch nach etwas schmecken kann. Große Kaffee-Ketten wie Starbucks oder Seattle’s Best Coffee stammen von hier. Zudem gibt es hier eine erkleckliche Kulturszene. An den Wochenenden tönt aus jeder Kneipe Musik. Der Grunge, den die Band Nirvana weltberühmt machte, wurde hier erfunden.
Seattle, die höher gelegte Stadt
Grunge bedeutet so viel wie Dreck, und genau auf dem rollt unsere F-Cell B-Klasse nun durch die Innenstadt nach Süden, weil der Rückweg auf dem Southbound wegen Verstopfung nicht infrage kommt. Einst lag Seattle an einer schön geschützten Bucht am Seattle-Sund, nur leider ein bisschen flach. Ständig wurde die Innenstadt von Springfluten heimgesucht, zudem nützt auch für damalige Verhältnisse ein modernes Abwassersystem nichts, wenn das mit Macht einlaufende Meer die Gülle wieder hochdrückt.
Da traf es sich fast gut, dass am 6. Juni 1889 in einer Schneiderei ein Feuer ausbrach, dem nahezu die gesamte Innenstadt zum Opfer fiel. In der Folge entschied man sich, die ganze Stadt höher zu legen. An den Straßenrändern wurden drei Meter hohe Ziegelmauern hochgezogen und in der Mitte mit Schutt aufgefüllt. Auf dem neuen Straßenniveau mussten bei noch existierenden Steinhäusern neue Hauseingänge gebrochen werden. Der alte war jetzt sozusagen die Kellertür.
Von Fischewerfern und Unterwelt-Geschichten
Man betrat die Häuser nun im ersten Stock über steinerne Bürgersteige, die wie Brücken zwischen Häuser und Straßen geschlagen wurden. Auf den Gehwegen finden sich überall Anordnungen von kleinen Quadraten, die leicht lila schimmern. Es sind Glasbausteine, die, in den Zement eingelassen Licht auf die früheren Bürgersteige weiter unten werfen sollten. Wer ein bisschen Zeit hat, sollte erstens in den Public Market marschieren und zusehen, wie sich die Händler über mehrere Meter frisch gefangene Fische zuwerfen, und er sollte die Seattle Underground-Tour buchen, wo ein Führer die Besucher in die alte Unterwelt Seattles führt.
Freie Kost für Häuptling Seattle
Vor dem Gebäude steht auch eine kleine Statue des Mannes, der der Stadt seinen Namen gab. Häuptling Seattle, Oberhaupt des Suquamish-Stammes, erlangte zuletzt in der Umweltbewegung zweifelhafte Berühmtheit, nachdem eine verbrämte Rede des roten Mannes zum Glaubensbekenntnis der Öko-Bewegung umgestrickt wurde. Chief Seattle hatte eine mächtige Stimme, war für damalige Verhältnisse mit 1,85 Metern ein Riese und pflegte ein gutes Verhältnis zu den weißen Siedlern.
Ausnahmsweise stahl der weiße Mann einmal nicht, sondern fragte brav um Erlaubnis, ob er angesichts Seattles Verdiensten um die Stadtgründung den Namen des stattlichen Häuptlings verwenden dürfe. Angeblich hatte der Häuptling bis zu seinem Tod 1866 im Rathaus freie Kost. Apropos: Wann gibt’s denn eigentlich Abendessen?