Der geballten Arbeitskraft und Mannschaftsstärke Chinas ist ja viel zuzutrauen, aber dass die stolze Nation aus dem Reich der Mitte nach einem kurzfristigen Entschluss des Politbüros über Nacht Shanghai komplett abgebaut und woanders neu errichtet hat, ist dann doch eher unwahrscheinlich. In jedem Fall aber ist Shanghai nicht da. Der Blick aus dem Fenster bietet ein leicht abgedunkeltes Mittelgrau, ohne jede Zeichnung,
In der Provinz Jiangsu ist die Mischung aus Hoch- und Bodennebel, dichter Bewölkung und Smog eine durchaus gebräuchliche Kombination, die - egal ob nah oder fern - nahezu jeden Gegenstand entfärbt. Das einzige was heute leuchtet sind die drei knallgrünen Mercedes in einer Halle am Stadtrand, angestrahlt von kaltem Neonlicht.
Ab jetzt geht es gen Westen
Nach fast zwei Wochen Pause tut es gut, die kleinen Gefährten wiederzusehen. Heute geht es endlich wieder los, und ab jetzt wird es keine nennenswerten Unterbrechungen unserer Weltreise mehr geben. Zwischen Shanghai und Stuttgart liegt außer einem kleinen Fleckchen Ostsee kein Ozean mehr, den es mit gewaltigem Aufwand samt Jumbojet zu überwinden gilt. Wir werden nur noch auf dem Landweg reisen, mehr oder weniger konstant auf Westkurs.
Foltern für den Führerschein
Wer sich in China hinters Steuer klemmen möchte, muss allerdings erst einmal einen Führerschein machen. Das ist eine hoch offizielle Angelegenheit, bei der der Prüfling so notwendigen Tests wie der elektrischen Leitfähigkeit des Körpers unterzogen wird. Unter Strom gesetzt möchte man möglicherweise die Reaktionsschnelligkeit des Probanden erkunden, der Sehtest ist so kompliziert und schwer nachzuvollziehen, dass im Hintergrund jemand mehr oder weniger heimlich Zeichen gibt, um die Lösung zu verraten. Am Ende erhalten jedenfalls alle das temporär begrenzte Dokument. Offenbar haben die Behörden weniger Vertrauen in meine Navigationsfähigkeiten als die der anderen. Jedenfalls gilt mein Führerschein länger.
Auto motor und sport teilt sich in den ersten Tagen Auto Nummer zwei mit Andreas und Michael, zwei Hörern des Radiosenders SWR3, die den Trip von Shanghai nach Peking bei einem Preisausschreiben erbeutet haben. So sind wir also im Prinzip zu viert im Auto, denn ganz vorn auf der Armaturentafel hockt der SWR3-Elch.
Der sieht trotz dunkler Sonnebrille auch am ehesten dem Tod ins Auge. Autofahren in China ist eine heikle Angelegenheit. Es ist nicht etwa so, dass es keine Regeln gäbe, nur hält sich im Prinzip niemand daran. Die Geschwindigkeitsbegrenzung innerorts liegt bei 60, in der Praxis gilt sie nur an Orten, an denen feste Radarfallen installiert sind. Ampeln werden nur dann als solche anerkannt, wenn auch andere Verkehrsteilnehmer vor Ort sind. Rechtsüberholen ist verboten, nur kümmert sich niemand darum, weil auch das Rechtsfahrgebot konsequent ignoriert wird.
Wilder Osten auf den Straßen
Die wichtigste Regel, die der todesmutige Autofahrer in China beachten muss ist: Wo eine Lücke ist, darfst du auch reinstechen. Selbstredend ist es in der ein oder anderen Situation durchaus diskussionsfähig, ob da eine Lücke war oder nicht, und wer sie zuerst gesehen hat. Im Prinzip funktioniert der Verkehr wie in der Formel 1, nur dass es am Ende keine Rennkommissare gibt, die sich den Vorfall aus acht Perspektiven und in 32 Wiederholungen noch einmal ansehen.
Und so kollidiert der Chinese im Allgemeinen derart, dass er anschließend sofort das Weite sucht, falls der Zustand des Fahrzeugs das noch zulässt. Falls nicht, versucht man sich vor Ort zu einigen. In jedem Fall vermeidet man gern das Rufen der Polizei, was langwierig und teuer sein kann, ohne dass die Aussichten auf Gewinnen des Streitfalles sich damit erhöhen.
Das Roadbook rät, sich in jedem Fall vor größeren Limousinen in Acht zu nehmen. Deren Lenker sähen sich gern über dem Gesetz, und in vielen Fällen träfe das auch zu. Und so ragt das linke hintere Rücklicht des großen Volvo Besitz ergreifend in unsere Spur. Den Blinker zu setzen, hielt der Eigner nicht für nötig. Allein die Röte des Rücklichts und die schiere Masse seines schwarz lackierten Schweden-Stahls sollten reichen, um die Richtung Westen rollende Masse hinreichend einzuschüchtern. Andreas geht lieber mal vom Gas, vermutlich eine weise Entscheidung.
Der Verkehr fließt auch zur Rushhour erstaunlich flüssig durch diese Stadt der Superlative, die 19 Millionen Einwohner hat, und deren höchstes Gebäude 492 Meter hoch ist. Aber das World Financial Center im Stadtteil Pudong, dass wegen seiner Form nur den Namen Flaschenöffner trägt, ist heute wegen der dicken, trüben Suppe ebenso wenig zu sehen wie der prächtige Jinmao Tower, das eines der höchsten Hotels der Welt beheimatet. Die Rezeption liegt im 54. Stock, die Bar „Wolke neun“ im 87.
Nummernschilder sind begehrt
Zurück zum Verkehr, der deshalb noch halbwegs flüssig rollt, weil zwar der Besitz von Privatautos in Shanghai in den letzten Jahren drastisch angestiegen ist, aber nicht die Zahl der Zulassungen. Jeden Monat werden nur 8.000 Nummernschilder vergeben. Natürlich können Wohlhabende die Wartezeit verkürzen, aber das treibt die Preise hoch. Mit etwa umgerechnet 5.000 Euro ist ein Nummernschild aus Shanghai vermutlich das teuerste Stück Blech der Welt.
Hoppla. Unser Blech ist kurz in Gefahr, weil ein Lastwagen rücksichtslos in unsere Spur zieht. Andreas kann gerade noch ausweichen. Das Gewusel auf der Autobahn lässt erst nach, als die Stadt nach rund 80 Kilometern Fahrt langsam zurückweicht. Die Provinz Jiangsu ist die wirtschaftlich am höchsten entwickelte in China. Sie gehört zu den eher kleinen Provinzen, hat aber 77 Millionen Einwohner. Außer geballter Wirtschafts- und Finanzkraft protzt sie auch mit ihrem Reichtum an Wasser. Ständig ziehen Flüsse und Kanäle durchs Bild. Nach eineinhalb Stunden überqueren wir einen mächtigen Fluss. Es ist der Jangtsekiang, der sich nicht weit von hier in unfassbarer Breite von 50 Kilometern auffächert, bevor er sich ins chinesische Meer ergießt. Sein Name bedeutet „langer Fluss“, mit 6.800 Kilometern ist er der längste Strom Chinas und nach Nil und Amazonas der drittlängste der Erde.
Es ist gerade Mittag, als SWR3 anruft, um die beiden glücklichen Gewinner nach ihren ersten Eindrücken zu befragen. „Wir überqueren gerade den längsten Kanal der Welt“, sagt Andreas lässig. Der ist immerhin auch 1.800 Kilometer lang.
Lassen wir uns vom Kurs abbringen?
Wir machen einen Abstecher nach Jiangdu, das mit einer Million Einwohner vergleichsweise dünn besiedelt ist, das allerdings einem Gerücht zur Folge die höchste Dichte schöner Mädchen in China haben soll. Obwohl die Sicht mittlerweile nicht mehr ganz so trübe ist, bekommen wir keine mandeläugigen Schönheiten zu sehen, dafür aber einen 1.500 Jahre alten Baum, der schnöde als Verkehrsinsel auf einer Innenstadtkreuzung dient.
Schon zwei Stunden vor Anbruch der Dunkelheit hängt die Sonne nur schwach durch graue Schleier glimmend schlaff am Horizont, als wir die letzten 150 Kilometer unserer Tagesetappe nach Huaian unter die Räder nehmen. Wir erhalten die nächste Lektion der chinesischen Fahrausbildung. Schon Konfuzius sagt: Wenn alle Spuren belegt sind, eröffne eine neue.
Und während wir noch mit leicht steigender Ungeduld hinter dem einen Laster festhängen und zusehen, wie der zweite daneben in Zeitlupe vorbeikriecht, schießt ein vollbesetzter Reisebus von hinten ins Bild, quert vom Innen- in den rechten Außenspiegel und rast auf die Blockade zu, ohne ansatzweise das Tempo zu verlangsamen. Wozu auch, wenn da doch der Standstreifen in seiner vollen Breite zur Verfügung steht. Mit locker 40 km/h Überschuss pfeilt das blaue Ungetüm haarscharf am rechten Truck vorbei, im Windschatten ein paar Pkw hinter sich herziehend, die meisten davon - raten Sie mal - richtig: große Limousinen.
Als wir um kurz vor Acht im Dunkeln unseren Tankplatz nach 500 Kilometern erreicht haben, ist es schon irgendwie ein kleines Wunder, dass alle B-Klasse n noch unversehrt sind. Somit haben wir wohl auch die praktische Prüfung des chinesischen Führerscheins bestanden - zumindest für heute.