Das ist vermutlich Tripys Rache. Wer hätte aber auch geahnt, dass unser elektronisches Roadbook so empfindlich ist und aufkommende Zweifel so hart bestraft? Gestern hatte es sich am späten Nachmittag selbst abgeschaltet. Selbst beim fünften Neustart gab es nur für wenige Sekunden die Position durch, um sich dann wieder in Dunkelheit zu hüllen. „Tripy ist kaputt“, haben wir über Funk durchgegeben und uns vom Auto des Fotografen zum abendlichen Tankpunkt lotsen lassen. Es war dann nur ein abgefallenes Kabel. Tripy war schlicht der Saft ausgegangen, weil wohl einer von uns Grobmotorikern versehentlich beim Aussteigen den Stecker losgetreten hat. Kaum war es wieder ans Bordnetz angeschlossen, war es wieder kerngesund. Bis gerade eben.
Eigentlich war der Tag schon so gut wie gelaufen. Wir hatten Huaian, die Stadt der Vorväter von Kaiser Zhu Yuanzhang bei Sonnenschein verlassen. Falls Sie mit dem Namen nichts anfangen können: Zhu Yuanzhang war der Begründer der Ming-Dynastie, für deren Porzellan-Vasen heute Millionen Euro über die Ladentheke gehen.
Hupe wird zur Morsetaste
Die beiden SWR3-Gewinnspielsieger Michael und Andreas waren voller Tatendrang und bester Laune, wenn auch Andreas ein seltsames Fieber befallen hatte. In der Nacht hatte er schon schwer geschwitzt, nun sitzt er weit vorgebeugt hinterm Steuer, eine Hand auf zwölf Uhr, den Ellbogen am Mittelkranz, angestrengt den Horizont absuchend, ob auch nur ein Mopedfahrer wagt zu zucken. Wie eine Morsetaste bedient er die Hupe, um jedem weiteren Verkehrsteilnehmer unmissverständlich klar zu machen, dass heute keinerlei Extravaganzen bei der Spurwahl geduldet werden. Das hindert ihn nicht daran, schon auf der achtspurigen Ausfallstraße ständig von rechts nach links und zurück zu schwenken, immer auf der Suche nach schnellerem Durchkommen. Die Frage, ob man ihm irgendwas ins Essen getan hat beantwortet er lässig mit: „Man passt sich an.“
Tatsächlich ist eine Verrohung der Verkehrssitten unverkennbar. Haben wir gestern noch staunend zur Kenntnis genommen, dass der Chinese sich zum Überholen ohne Zögern der Standspur bedient, wenn es auf den regulären Bahnen nicht ordnungsgemäß vorangeht, kreuzen wir heute die Linie des Seitenstreifens ebenfalls mit größter Selbstverständlichkeit. Die Autobahn G2 Richtung Peking ist hier nur zweispurig und voller völlig windschief überladener Lastwagen, die ständig zu längerem Verzögern zwingen. Zeitweilig strömt die halbe Flotte unseres über 20 Fahrzeuge zählenden Konvois hintereinander über die Standspur dahin. Plötzlich klingelt das Handy, und Mission Control bittet um etwas Zurückhaltung. Irgendein Offizieller hat uns irgendwo gemeldet und gebeten, wir mögen uns doch Gästen entsprechend maßvoll verhalten.
Im Reich von Konfuzius und Obelix
Schließlich sind wir nun in der Provinz Shandong angekommen, die nicht nur für den Beginn der chinesischen Zivilisation eine wichtige Rolle gespielt hat, sondern auch ein jahrtausende alter Hort der Religiosität ist. Der Berg Tai ist eine wichtige heilige Stätte des Taoismus, auch die Stadt Qufu ist nicht weit entfernt. Hier wurde der legendäre Philosoph Konfuzius geboren. In den umliegenden Bergen liegen zahlreiche buddhistische Tempel, einer davon auch auf unserer Route durch Tai’an. Wir halten am Dai-Tempel, betrachten andächtig die Menschen, die Kerzen und Räucherstäbchen anzünden und versuchen, gerade wegen des vor uns liegenden Feierabend-Verkehrs eine höhere Bewusstseinsebene mit tiefer Entspannung zu erreichen. Dabei machen es einem die Einheimischen nicht gerade leicht. Von den Andenken- und Imbissbuden wummern heftige Techno-Bässe herüber, und direkt nebenan üben sich auf der Rollschuhbahn einige Jung-Chinesen als John Travolta auf Rädern, selbstverständlich ebenfalls mit sehr tanzbarer Musik.
Auch der heilige Berg, für den Tai’an berühmt ist, ist nicht so heilig, dass man nicht erhebliche Brocken daraus brechen könnte. Die Straße nach Norden ist beidseitig kilometerweit mit Steinmetzen gesäumt, in der Vorgärten zig Tonnen schwere Hinkelsteine zur Weiterverarbeitung lagern. Wenn Obelix einmal alt wird, lässt er sich bestimmt hier nieder.
Schwer zu sagen, ob es der wabernde Räucherstäbchenduft war, der beruhigende Blick des goldenen Buddha oder die alte Frau auf dem Fahrrad, die ohne jedes Zögern und ohne jeden Blick außer dem nach vorn die vierspurige Landstraße überquert und ohne jede Reaktion auf Andreas Gehupe rechts in einen Hof einbiegt, in jedem Fall ist Andreas seitdem ein anderer. Rikschas, die uns auf unserer Spur entgegenkommen, Kleinwagen, die mal nach links, mal nach rechts über den Mittelstreifen turnen, Lastwagen, die links blinkend nach rechts ziehen, nichts kann ihn mehr aus dem Gleichmut bringen. Die Hupe schweigt für den Rest des Abends.
Qual der Wahl: Rechts oder Links
Diese innere Ruhe können wir alle gut brauchen, denn jetzt schweigt Tripy. Kaum haben wir die Autobahnauffahrt und die Mautstation hinter uns gelassen, liegt vor uns eine Gabelung. Tripy ist aber schon fast drei Kilometer weiter bei einem Autobahnkreuz. Was nun, rechts oder links? Wir entscheiden uns für rechts, nur um nach 300 Metern festzustellen, dass links die richtige Wahl gewesen wäre. Wir fahren exakt in die falsche Richtung. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn da nicht dieses Schild stünde, das verkündet, die nächste Ausfahrt ist nicht vor 23 Kilometern zu erwarten.
Um die Brisanz der Lage angemessen zu beurteilen, ist wissenswert, dass wir seit 20 Minuten auf Reserve fahren. Beim fatalen Abzweig hatten wir noch 640 Gramm Wasserstoff an Bord, für die restlichen, rund 30 Kilometer eine mondäne Menge. Doch nun haben wir mindestens 60 Kilometer vor uns, und natürlich geht es sofort nach dem Navigationsfehler Energie raubend steil bergauf. Sofort lässt der Bordcomputer die Restreichweite auf 32 Kilometer zusammenschnurren. Wir reduzieren sofort das Tempo auf maximal 60, achten darauf, dass der Zeiger des Powermeters in der Armaturentafel die Zehn-Kilowatt-Grenze möglichst nicht überschreitet und kriechen in die Dämmerung. Wir sind nicht mal die Langsamsten. Auf den vier Spuren quälen sich die Trucks bergan. Zeitweilig sind wir nicht schneller als 35 km/h. Wie zum Hohn steht hier eine Radarfalle. Erlaubt ist Tempo 110.
Unsern Kraftstoff gibt es nicht an der Tanke
Später erfahren wir, dass auch andere aus dem Konvoi den falschen Abzweig genommen haben. Aber die hatten alle reichlich Benzin oder Diesel an Bord, zudem kommt wenige Kilometer nach dem Abzweig eine Raststätte, deren Zapfsäulen uns jetzt höhnisch beäugen. Nach mehr als einer halben Stunde ist endlich die Abfahrt erreicht. Sofort nach der Mautstelle wird gewendet. 61 Kilometer zeigt Tripy jetzt bis zum Tagesziel an, im Tank sind noch 480 Gramm Wasserstoff. Wir müssten einen Verbrauch von 0,78 Kilo auf 100 Kilometern schaffen, um das Ziel zu erreichen. Zum Vergleich: Der bisherige Rekord auf unserer Weltreise liegt bei 0,88 Kilo. Zu allem Überfluss brummt nun die Brennstoffzelle los, um die Batterie aufzuladen, das kostet weiteren Wasserstoff. Wir sind so sanft gefahren, dass die Energie teilweise nur aus dem elektrischen Speicher unter dem Kofferraum kam.
Jetzt zeigt sich, dass Andreas Besuch im Tempel sehr sinnvoll investierte Zeit war. Mit stoischem Gleichmut streichelt er das Gaspedal und hält es, so oft es geht, an der Nulllinie, was nicht einfach ist denn wieder müssen wir pausenlos irgendwelche Hügel hinauf, was das Verbrauchs-Diagramm im Command-System mit fürchterlich hohen Balken über teilweise 1,7 Kilo Verbrauch quittiert.
Die Spannung steigt mit jedem Meter
Wir haben Mission Control längst verständigt, hinter uns fahren unsere chinesischen Begleiter Iris und Felix mit Warnblinkanlage. Nach der längsten Dreiviertelstunde dieser über zweimonatigen Reise sind wir endlich wieder am besagten Abzweig angekommen. Tripy verkündet 32 Kilometer bis zum Ziel, im Tank sind noch 300 Gramm. Der Bordcomputer wagt keine Prognose mehr und zeigt nur ein schrill-gelbes Zapfsäulen-Symbol.
Houston ruft an, nachdem wir von der Rückseite des Mondes zurück sind. „Wir sind zuversichtlich. Schließlich hat niemand mehr Erfahrung mit den Autos als du“, tönt es aus dem Äther. Ihr habt leicht reden, nach meiner Rechnung sind wir immer noch zwei Kilometer im Rückstand. Allerdings wissen wir spätestens, seit einige Kollegen aus Hong Kong ein Auto komplett leer gefahren haben, dass auch bei 0,00 Kilo noch Wasserstoff für mindestens fünf Kilometer an Bord ist.
Mittlerweile hat sich auch der Viano des Konvoichefs zu uns gesellt. Dann ruft Houston wieder an: „Wie weit habt ihr es denn noch?“ „21 Kilometer, sagt Tripy.“ „Ja, aber Tripy ist auf das Hotel in der Stadt geeicht. Bis zur Tankstelle sind es nur noch sechs“, spricht Melanie. Mit einem Schlag sind wir mit unseren 200 Gramm im tank bestens bedient. „Du kannst wieder normal fahren“, geht die Order an Andreas, der fast schon einen Krampf im rechten Fuß hat.“
Doch der mag dem Braten nicht trauen. Wir rollen weiter ganz gemächlich nach Jinan ein. Das Telefon klingelt. SWR3 ist dran. Michael parliert mit der Moderatorin, dass wir immer noch unterwegs sind, dass es dunkel geworden ist, wie breit die Straßen in China sind. Vom Beinahedrama in Wagen zwei bekommen die Hörer in Deutschland nichts mit. Dann kommt die Tankstelle 0,16 Kilogramm Restmenge zeigt der Computer an, bis zum Hotel wären es noch 16 Kilometer gewesen. Pah, das hätten wir auch noch geschafft.