Die Gerade misst 2,8 Kilometer, dann endet sie im Nichts. Dicke Betonbrocken, die wie Findlinge aussehen, markieren ihr jähes Versiegen in dornigem Gestrüpp. Unten sind sie rot-weiß-rot angestrichen, damit man das Ende für endgültig hält. In diesem Nichts war es lange still, jetzt hört man von Weitem das zornige Stakkato eines ausdrehenden Achtzylinders mit drei kurzen Pausen.
Die Gerade sieht aus wie eine Landstraße, sie ist recht breit, hat eine glatte Asphaltdecke samt Mittelstreifen und wird von Birken umsäumt. Es herrscht kein Verkehr, niemand möchte ins Nichts. Das Stakkato kommt näher, wird zu einem blauen Fleck im ausgeblichenen Grün des Sommers. Rasch gerinnt er zu den Umrissen eines Autos. Die Gerade wird zur Bahn, das Blau zu Avusblau und das Auto zum BMW M5. Der Fahrer lässt den Wagen aus hohem Tempo ausrollen. Rot-Weiß-Rot gibt das energische Signal zum Umdrehen, noch zivile 160 km/h mögen es gewesen sein, das packt der M5 locker im dritten von sechs Gängen.
Die Bahn öffnet sich in die andere Richtung, das prickelnde Spiel beginnt von Neuem: 2,8 Kilometer lang die Lust an einem herrlich komplizierten Verbrennungsmotor und an einem wunderbar präzisen Schaltgetriebe auszuleben. Der Viernockenwellen-V8 war schon bei der Anfahrt auf 90 Grad Öltemperatur, die gelben Warndioden im Drehzahlmesser sind längst erloschen. Er lädt ein, an seine Grenze zu gehen, nein, er will es unbedingt, der rote Bereich beginnt bei 7.200/min. Zu spät für gefühlvolles und materialschonendes Hochschalten, zu viel für einen neuwertigen M5. Würde man sich dem Drehzahlrausch vollends hingeben, es vergingen nur zwölf Sekunden bis 160 km/h.
Vier Steuerketten, 32 Ventile
Auch wenn das großartige 4,9-Liter-Triebwerk mit vier Steuerketten und 32 Ventilen selbst bei 5.200/min gierig nach mehr schreit und die ganze entfesselte M-Power seiner 400 PS hemmungslos an die neuneinhalb Zoll breiten Hinterräder leiten will, kommt jetzt Rot-Weiß-Rot im Kopf. Man muss sich nicht zwingen, den Dritten einzulegen, das Gebotene ist eindrucksvoll genug, es lebe der linear hochdrehende Saugmotor! Gefühlt liegt es nahe am Exzess. Der Fahrer spürt nach dem Einkuppeln doch eine Art Erleichterung: Ein Seufzer scheint aus dem Labyrinth der acht Einzeldrosselklappen zu dringen. Dabei blieb auf der Bahn die unscheinbare Taste "Sport" auf der Mittelkonsole unberührt, drückt man sie, öffnen sich die Drosselklappen beim Gasgeben noch schneller. Der kraftvolle Sound stimuliert noch gnadenloser, und die sportliche Kennlinie der Servolenkung wird nebenbei fast unmerklich aktiviert.
Der M5 bleibt nicht allein. Er muss sich die Gerade, die sich beim exzessiven Ausdrehen in die Illusion einer Achterbahn verwandelte, nun mit einem Mercedes E 55 AMG teilen. Die schwarze V8-Limousine mit dem schmalen Heckspoiler wartet an ihrem anderen Ende, dort, wo an einer T-Kreuzung ein harmloses Vorfahrt-achten-Schild den krassen Übergang in die reale Welt mildert.
Hubraum statt Drehzahl
Man ist geneigt, den Mercedes trotz seiner obsidianschwarzen Wichtigkeit und seines optischen Tunings mit ausgestellten Radhäusern, extrabreiten AMG-Alurädern und einem mächtigen Doppelrohrauspuff zu unterschätzen. Die weiche, rundliche, ja ausladende Form des W 210 zeigt nicht die strenge, ja technokratische Ästhetik eines M5, stets erinnert sie an ein Taxi. Genauso einladend für Mitfahrer präsentiert sich sein geräumiger Innenraum in fürstlicher Breite und mit ganz viel Platz im Fond.
Während die lederbezogenen Sportsitze des BMW den Fahrer fest umklammern, lümmelt es sich auf den breiten Sesseln im schrillen Materialmix Leder und Alcantara "Condor Blueberry" fast wie auf einem Sofa. Die Unterlagen im Handschuhfach, in dessen Deckel ein Taxameter ideale Unterbringung fände, sprechen Japanisch. Der tadellose Wagen weist sich auf dem Holzfurnier des Aschenbechers auf der Einstiegszierleiste und da, wo sonst "Avantgarde" steht, als "Wide Body Version Limited" aus. Es handelt sich dabei um eine spezielle Edition für den japanischen Mercedes-Importeur Yanase als Hommage an den 500 E, auf den japanische Autofreaks kolossal abfuhren.
Die Gerade lockt, sie gibt sich dem E 55 AMG hin, aber zur Achterbahn wird sie nur im M5, das wird schon nach 400 Metern klar. Auch der 354 PS starke Achtzylinder im Mercedes klingt schön sonor und bassig im mittleren Drehzahlbereich, auch er intoniert obenheraus ein mitreißendes Stakkato. Aber er schreit nicht, will keine Schaltvorgänge bis zur unerträglichen Klimax hinauszögern. Dem steht schon die behäbige Fünfstufenautomatik im Weg, die das Drehvermögen des Motors bei Kick-down oder Sperren der großen Gänge per Wählhebel zwar gut nutzt, aber schon bei 5.800/min würde in Stufe drei und vier final geschaltet. Dann reicht es dem M 113, da war sein DOHC-Vorgänger M 119 weit besser.
Der E 55 schiebt einfach nur bullig, ja tierisch an, schöpft schiere Kraft vor allem aus dem mittleren Drehzahlbereich, Hubraum und Drehmoment sind die Verbündeten des M 113. Bei AMG haben sie seine eher bieder konstruierte Maschine mit nur zwei Nockenwellen, aber Doppelzündung nicht so ambitioniert umgekrempelt wie die beim BMW-Dezernat M ihren königlichen V8, der selbst den Nobel-Roadster Z8 ganz ohne äußeres M-Signet mit den gleichen fulminanten 400 PS befeuert.
Reisekomfort im E 55 AMG
Der Mercedes-Fahrer fühlt sich kaum anders als in einem schlichten E 430. Aber der Eindruck täuscht ein bisschen, Understatement ist selbst beim E 55 AMG dank der bürgerlichen Karosserie noch genügend im Spiel. Die geheimnisvolle Gerade, 2,8 Kilometer vor dem Nichts, wird zwar nicht zur Achterbahn, aber immerhin zur Bahn.
Zwischen Tempo 120 und 140 legt der Mercedes eindrucksvoll zu, 160 km/h sind locker und sehr entspannt drin. Zählte die Stoppuhr mit und der Gasfuß würde downkicken, als gäbe es kein Morgen, der Zeiger bliebe bei 12,7 Sekunden stehen. Das ist nur ein Wimpernschlag länger als beim immerhin 50 PS stärkeren M5 – Chapeau, Mercedes! Die wohltuende Leichtigkeit des Schnellseins lässt sich mit ihm perfekt leben. Am Lenkrad festhalten und Gas geben, in der realen Welt muss man den Wählhebel nur zum Rückwärtsfahren anfassen, selbst der Kick-down darf einrosten, man braucht ihn nicht, der Mercedes serviert auf die sanfteste Art Kraft im Überfluss.
In der realen Welt gibt es auch hin und wieder ein paar Kurven. Der betont sportliche BMW M5 mit klassischer McPherson-Aufhängung vorn und hinten mit der Mehrlenker-Integralachse aus dem Supercar 850i meistert sie, wie erwartet, mit Bravour. Auch die Bremsen packen energisch zu. Den sogenannten ungefederten Massen, gleichermaßen Feind von Straßenlage wie Fahrkomfort, rückte man schon beim Basismodell E39 zu Leibe.
Statt die üblichen Stahlblechpressteile für Lenker und Hilfsrahmen zu verwenden, griffen die BMW-Konstrukteure auf Leichtmetall zurück. Der Mercedes zeigt sich mit seinem markentypischen Raumlenkerfahrwerk beim Kurvenfahren eindeutig untersteuernder und träger als der superagile, sehr lange neutral einlenkende BMW, dafür ist er, wen wundert es, im Fahrkomfort dem M5 überlegen, dessen Straffheit aber nie unangenehm wird.
Keine Frage, der M5 ist ein reinrassiger Sportwagen, dem zwei weitere Türen und eine Rückbank gewachsen sind. Der E 55 AMG wirkt wie eine brave Limousine, die aus Versehen am Fließband den stärksten Motor eingebaut bekam. Beide Extreme fahren sich extrem reizvoll.
Fazit
Optisch leicht abgerüstet gäbe der E 55 AMG den idealen Cruiser mit sonorem V8-Sound. Tempo 160 km/h sind gerade einmal 3.000/min, Parole: Laufen lassen. Doch der BMW M5 ist die pure Emotionsmaschine, von der selbst ich nicht genug kriegen kann. Ein Traumwagen, der fordert und ganz viel gibt.