Die Technik der Raumlenkerachse: Revolution an der Hinterachse

Technik der Raumlenkerachse
Revolution an der Hinterachse

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Bis heute wird eine Fahrwerksentwicklung genutzt, die vor über drei Jahrzehnten bei Mercedes-Benz als Raumlenkerachse eingeführt wurde. auto motor und sport hat den mittlerweile pensionierten Vater dieser Hinterradaufhängung getroffen.

Raumlenkerachse, Testträger
Foto: ams

Der Konstrukteur Manfred von der Ohe ist einer der vielen unbekannten Helden der Automobilentwicklung. Auch seine bedeutendste Konstruktion arbeitet im Verborgenen: Die Raumlenkerachse feierte zunächst im Heck des Mercedes 190 ihre Premiere und wurde in der Folge für alle anderen neuen Pkw-Modelle des Herstellers übernommen.

Raumlenkerachse revolutioniert Fahrsicherheit

Der Trick: Statt an zwei übereinanderliegenden Dreieckslenkern wird das Rad der Raumlenkerachse an fünf einzelnen Lenkern geführt. Das Ergebnis bezeichnen Techniker als "Führungspräzision". Mit dieser Konstruktion, die von der Ohe ausgetüftelt hat, wird der Idealfall erreicht: Das einzeln aufgehängte Rad rollt in jeder Fahrsituation exakt senkrecht auf der Fahrbahn. Mit den bis dahin üblichen Konstruktionen war dies nicht zu erzielen. Die revolutionäre Raumlenkerachse lässt nur die Ein- und Ausfederbewegung zu und hält das Rad dabei in der optimalen Position. Das Ergebnis ist ein weitgehend neutrales Fahrverhalten, das die Fahrsicherheit spürbar erhöht.

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Die beste Radführung lenkt nicht mit

Die Raumlenkerachse folgt einem vom genialen Rennwagenkonstrukteur Colin Chapman formulierten Ideal: "Die beste Radführung ist die, die überhaupt nicht mitlenkt." Bis zur Übertragung dieser Theorie für den Einsatz in einem Serienwagen war es ein langer Weg. Er führte über den Prototyp Mercedes C111 von 1970, der bereits über eine ähnliche Hinterachskonstruktion wie später der 190 verfügte. Aber im Gegensatz zu dem hart abgestimmten sportlichen Zweisitzer mit starken Anleihen beim Rennwagenbau musste die Raumlenkerachse im Alltagsauto auch den Ansprüchen an den Komfort genügen. Statt der im C111 verwendeten Uniballgelenke wurden die fünf Lenker beim Serienmodell in weicheren Gummilagern geführt.

Erstmals Konstruktions-Computer im Einsatz

Um sich einer derart komplizierten Aufgabe zu nähern, vergeben die Schwaben dem Kind gern einen vertraut klingenden Namen: "Bei uns hieß sie nur Stängelesachse", erinnert sich der damalige Forschungs- und Entwicklungsvorstand Werner Breitschwerdt heute. Das Erstellen der Konstruktionszeichnungen unterstützte erstmals ein Konstruktions-Computer. Doch das aufwendige Berechnen der Details der Raumlenkerachse mussten Manfred von der Ohe und seine Kollegen noch manuell vornehmen.

60 verschiedene Achslösungen dienten als Testvorläufer für die spätere Serienachse. Mit ihnen erfolgte der zweite wichtige Schritt zur Serienreife: die Praxiserprobung durch die Versuchsabteilung. Mit einer eigens dafür gebauten Fahrmaschine, die der Versuchsingenieur Frank Knothe "Mondauto" taufte, wurde daraus die Raumlenkerachse für den neuen Mittelklasse-Mercedes destilliert.

Raumlenkerachse feiert 1982 Premiere im Mercedes 190

Eigentlich hätte die revolutionäre Hinterachskonstruktion bereits für die 1979 vorgestellte S-Klasse der Baureihe W126 fertig sein sollen. Doch die Zeit reichte nicht aus, und die Raumlenkerachse feierte erst Ende 1982 im vollständig neu entwickelten 190 ihre Premiere.

Damit wurde die Diagonalpendelachse in den Mercedes-Pkw abgelöst. Neben den verbesserten Fahreigenschaften besaß die neue Hinterachse einen weiteren Vorteil: Im Vergleich zur Pendelachse ist sie um ein Viertel leichter. Die vier Lenker werden nur mit Druck und Zug belastet. Es wirken keine Drehkräfte auf sie, sodass sie mit weniger Aufwand gefertigt werden können.

Mercedes-Patent nach 20 Jahren erloschen

Das Prinzip der Raumlenkerachse ließ sich Mercedes-Benz als Patent schützen. Doch das erlosch nach 20 Jahren. Somit können nun auch andere Hersteller von der Ohes Konstruktion nutzen. Auch wenn sein Baby gerühmt wird: Der in Hamburg geborene Ingenieur war bislang bestenfalls Insidern ein Begriff.

Doch beim Revival der Weltrekordfahrt des Mercedes 190 E 2.3-16, die vor 30 Jahren im süditalienischen Nardò stattfand, steht der heute 75-Jährige überraschend im Zentrum der Aufmerksamkeit. Anhand eines verkleinerten Modells erklärt er seine Konstruktion. Etwa zur gleichen Zeit, als der drahtige Norddeutsche die "Stängelesachse" konstruierte, entdeckte er privat das Windsurfen. "Man braucht nur ein Brett und ein Segel, ganz einfach", sagt er. Ganz einfach, wie auch das Prinzip seiner Raumlenkerachse.