Anfang 2022 setzte Mercedes ein Ausrufezeichen. Man brachte als erster Hersteller ein zulassungsfähiges, autonomes Fahrsystem nach Level 3 in S-Klasse und EQS auf den Markt. Der Drive Pilot kann auf Autobahnen in Stausituationen bei bis zu 60 km/h autonom fahren. Level 3 heißt dabei, dass der Fahrer nicht mehr das Verkehrsgeschehen verfolgen muss und währenddessen beispielweise Videos streamen, das Smartphone nutzen oder sogar eine Zeitschrift aufschlagen darf.
Das Fahrzeug trägt in dieser Zeit die Verantwortung – auch rechtlich. Zwischenzeitlich zog BMW mit dem Personal Pilot L3 für den Siebener nach. Der Autobahnassistent dagegen ist nur ein Level-2+-System, da die Aufmerksamkeit des Fahrers weiterhin auf die Straße gerichtet sein muss. Nimmt man den Blick von der Fahrbahn folgt auf Verwarnungen bald die Deaktivierung.
Das ist neu
So viel zum Status Quo. Nun erweitert Mercedes das System auf das Fahren im fließenden Verkehr bei bis zu 95 km/h auf der rechten Spur. Die recht strengen Voraussetzungen bleiben die gleichen: Wetter und Lichtverhältnisse müssen passen, das Auto muss ein Vorausfahrzeug erkennen und die Strecke muss in hoher Auflösung im Navi kartographiert sein.
So kommt der Drive Pilot mit dem Berliner Verkehr klar
Klingt befremdlich, daher auf zum Praxistest. Die tempolimitierte A115 aus Berlin heraus dient als Teststrecke. Auf der Avus, wo sich einst Grand-Prix- und DTM-Helden balgten, suchen wir uns nun auf der rechten Spur ein Vorausfahrzeug. Der VW Passat vor uns rollt mit entspannten 82 km/h dahin. Das System erkennt in der Assistenzansicht im Tachodisplay das Vorausfahrzeug und bietet die Nutzung des Drive Pilot an. Hierfür gibt es weiterhin zwei Tasten am Lenkradkranz, die den Piloten aktivieren und deaktivieren. Einmal gedrückt, schon leuchten die türkisen LEDs am Lenkrad auf und der EQS übernimmt das Steuer.
Und jetzt? Schweißperlen, gebannte Wachsamkeit? Nö. Der EQS folgt mit einigem Respektabstand den vorausfahrenden Autos, reagiert gelassen auf einscherende Verkehrsteilnehmer vor ihm. Auch Kurven nimmt er souverän, wenn auch sehr gemächlich. Einzig mit Einfädelstreifen hat er hier und da Probleme und bittet mit rot leuchtenden Lenkrad-LEDs um Kontrollübernahme. Das geschieht meist einigermaßen transparent und vorhersehbar. Weiß das Fahrzeug beispielsweise, dass es auf ein Autobahnkreuz oder eine andere Verkehrssituation aufläuft, die das System nicht selbständig lösen kann, warnen gelbe Lichter bereits einige Sekunden vor der Kontrollübergabe.
In der Realnutzung für längere Strecken ist das System also am ehesten als Eingliederer in Lkw-Kolonnen zu sehen. Hier kann der Drive Pilot die Kontrolle übernehmen und der Fahrer sich anderen Dingen widmen. Schreibt die Polizei übrigens ein Knöllchen für die Nutzung des Smartphones bei aktiviertem Drive Pilot, so darf man sich in der Werkstatt ein Nutzungsprotokoll des Drive Pilots ausdrucken lassen, das die Strafe abwendet.
Gleiche Sensorik gleicher Aufpreis
Aber abgesehen von Software und zwei Lenkradtasten: Wofür gibt man die zusätzlichen 5950 (S-Klasse) bzw. 8.842 Euro (EQS) eigentlich aus? Drive Pilot Fahrzeuge erhalten ein Lidar-System in der Front, ein Innenmikrofon, um Sirenen zu erkennen – auch in solchen Situationen übergibt das System zurück an den Fahrer –, sowie ein leistungsfähigeres GPS-Antennenarray, eine zusätzliche Heckkamera und einen Feuchtigkeitssensor im Radhaus.
Das war jedoch beim Drive Pilot 60 System ebenfalls so, weswegen das neue System für alle Drive Pilot Fahrzeuge kostenlos als Update zur Verfügung steht. Ab Anfang 2025 steht der Drive Pilot 95 zur Verfügung. Bis 2030 möchte Mercedes die Level-3-Funktion auf 130 km/h erweitert haben.