Papier ist geduldig, heißt es. Und Geduld braucht es auch, um die komplette WLTP-Reichweite aus dem Akku eines Lucid Air herauszukitzeln. Bis zu 883 Kilometer verspricht das WLTP-Papier für den Air Dream Edition Range. Mehr bietet derzeit kein anderer Stromer. Die Realität? Die sieht erst mal anders aus, auch auf einem dem Testwagen beiliegenden Papier, denn das weist den ersten Lucid, der zum auto motor und sport-Test antritt, als Touring aus. Nein, kein Kombi, sondern eine schwächere Variante mit 92-kWh-Akku statt gewaltigen 118 der Dream Edition und auch "nur" 629 statt 933 PS. Unter 487 PS (Pure) macht es Lucid eh nicht. Unter 109.000 Euro auch nicht. Der Air zielt klar auf die elektrische Oberklasse.
Dabei ist die 4,98-Meter-Limo erst mal gar nicht so klar einzuordnen. Die Maße verorten sie in der oberen Mittelklasse – der neue BMW i5 ist acht Zentimeter länger. Preis und Raumangebot im Inneren winken aus der Oberklasse. Und beim Fahren? Auch da bewegt sich der Lucid zwischen den Welten. Trotz üppiger 21-Zoll-Optionsräder rammt der Air städtische Schlaglöcher nicht unsanft ins Chassis, sondern bügelt sie ziel-sicher, wenn auch nicht bis zur Unkenntlichkeit aus.
Schwebt ohne Luftfahrwerk
Je höher das Tempo, desto freier schwebt der Aufbau. Brückenfugen, tiefe, lange Wellen werden erfasst und nivelliert. Komfort auf höchstem Niveau? Nicht ganz. Kurze, kleine Unebenheiten rutschen dem Fahrwerk durch und erzeugen eine leichte Stuckerneigung. Außerdem sirren Motoren und Getriebe etwas zu deutlich, Reifen- und Windgeräusche bewegen sich ebenfalls nicht ganz auf Klassenniveau. Lucid verzichtet auf eine fahrwerksseitige Technikparty mit Gästen wie Luftfahrwerk, aktiven Stabilisatoren und Hinterradlenkung. Adaptive Dämpfer und herkömmliche Stabilisatoren an einer Doppelquerlenkeraufhängung vorn und einer Multilink-Achse hinten müssen genügen.
Und so fährt sich der Lucid nicht nur komfortabel, sondern für eine große Limousine durchaus agil und wenig entkoppelt. Die sehr direkt ansprechende Lenkung trägt zumindest einen kleinen Teil dazu bei, da sie zwar nicht sonderlich feedbackintensiv ist, aber mit der festen Übersetzung viel Berechenbarkeit und Kontrolle bietet. Dank der nahezu perfekten Gewichtsverteilung tanzt der Lucid trotz seiner 2,3 Tonnen engagiert über die Landstraßen, neigt sich leicht, bleibt aber sowohl unter Last wie auch bei gelupftem Strompedal stets höchster Neutralität verpflichtet. Sogar leichtes Lastwechselgieren ist auf Provokation möglich.
Dafür muss der Sprint-Modus angewählt werden, der das ESP lockert. Nebenher werden auch die Servounterstützung der Lenkung sowie Fahrwerk und Antrieb angepasst. Softer geht es in Smooth und der Mittelstufe Swift zu. Ein Individual-Modus fehlt ebenso wie die Option auf Segeln. Denn die Rekuperationsleistung lässt sich nur zweistufig zwischen einer starken und einer sehr starken Stufe verändern. Im Sprint-Modus wird sie abgeschwächt, um eine Verbrenner-Motorbremse zu imitieren.
26,3 kWh/100km Testverbrauch
Die Permanentmagnet-Synchron-Motoren (PSM) an beiden Achsen stammen aus eigener Entwicklung. Mit ihnen kommt der Lucid auf einen Testverbrauch von 26,3 kWh/100 km inklusive Ladeverluste – niedrig für die Klasse. Auf der Eco-Runde reicht es für stattliche 532 Kilometer Reichweite, obwohl die PSM-Maschinen bei Nichtbestromung ihre gute Effizienz bauartbedingt durch Schleppverluste torpedieren können.
Ebenso beachtlich: der Sportfahrerverbrauch, der unter 30 kWh bleibt. Heißt: Auch längere Autobahnetappen können mühelos mit hohem Tempo absolviert werden. Hier spielt die derzeit strömungsgünstigste Karosserie (cW = 0,197) auf dem Markt ihre Stärken voll aus. Apropos Speed: Der zweitschwächste Vertreter der Air-Baureihe blitzt in 3,5 Sekunden auf 100 km/h und lässt auch darüber nicht locker. 12,9 s auf 200 km/h sind BMW-M4-Niveau.
Zeichen eines Start-ups
Setzen viele neue Autofirmen ihren Fokus auf Digitalität und Gadgets, bringt Lucid eine hohe Reife in den klassischen Auto-Tugenden mit. Trotzdem krankt der Air an Symptomen eines sehr jungen Herstellers. So kostet etwa das Dream-Drive-Pro-Paket für teilautonomes Fahren satte 10.000 Euro Aufpreis. Die Funktion ist aber in Europa noch nicht freigeschaltet, der Lucid bis dahin nur mit Adaptivtempomat, aber ohne aktive Spurführung unterwegs. Und die Verkehrszeichenerkennung ist völlig verloren. Sie zeigt häufig das 100er-Schild in der Stadt an und erkennt keinerlei Tempolimit-Einschränkungen wie Wetter oder Uhrzeit.
Außerdem müssen die Scheibenwischer aus ihrem kalifornischen Sommertraum geweckt werden, da sie selbst auf schnellster Stufe zu langsam für hiesige Regengüsse sind. Die Kofferraumklappe sitzt auffällig schief und quietscht immer wieder mal beim Öffnen. Und noch dazu blieb dem Air im Test einmal kurz der Strom weg: Auf der Messgeraden ploppte eine Fehlermeldung für das Zwölf-Volt-System auf, dessen Batterie sich nur kurze Zeit später vollständig entlud. Die Diagnose ergab einen fehlerhaften Sicherheitsschalter im Niederspannungsanschlusskasten.
Das weitere Testprogramm konnte die US-Limo fehlerfrei fortsetzen und mit ihren Platzverhältnissen beeindrucken. Beim Ausmessen war das Staunen groß, als der Air ähnliche Innenmaße wie die 41 beziehungsweise 24 cm längeren BMW i7 und Mercedes EQS aus seiner flachen Silhouette zauberte. Das Raumangebot ist, na klar, luftig. Großgewachsene finden auf der kuscheligen Rückbank viel Platz und Komfort. Im Touring-Modell sitzen sie besonders bequem, weil die Batteriemodule unter dem Fußraum zugunsten eines angenehmeren Kniewinkels entfallen. Beachtlich ist auch das gebotene Stauvolumen, vor allem im vorderen Kofferraum. Nachteile? Die wegen der niedrigen Karosserie flache A-Säule schränkt Einstieg und Sicht stark ein. Man sitzt auffallend tief, und der Einstellbereich des Lenkrads dürfte gern größer sein.
Bedienung per touch
Bei der Bedienung setzt Lucid fast vollständig auf Touchscreens. Der obere stellt Informationen zu Navigation, Medien und Telefon dar. Alle Menüs sind über eine Direktwahlleiste schnell zu erreichen und können durch Wischen auf das untere Display erweitert werden – mit größerer Karte, genaueren Infos und einer großen Tastatur. Gleichzeitig werden hier alle fahrzeugrelevanten Funktionen wie etwa Fahrmodi eingestellt. Die Menüs sind flach aufgebaut, Laderouten werden präzise mit Standzeiten und SOC-Ladezielen geplant, auf Wunsch auch mit Einschränkungen bei der Wahl des Ladesäulenanbieters.
Aber das Bedienkonzept hat auch Schwächen. Ähnlich wie bei Tesla nervt es, das Lenkrad und die Spiegel über das Display einstellen zu müssen. Ebenso, dass man Licht und Scheibenwischer über einen Touchscreen-Wurmfortsatz links vom Tacho aktiviert. Das Lenkrad verdeckt das halbe Display, zudem muss man zum Einschalten den Blick von der Straße nehmen. Ebenfalls unpraktisch: Stehen Flaschen in den Cupholdern, muss man zur Bedienung des unteren Displays zwischen ihnen hindurchfingern.
Qualitativ gefallen das Nappaleder und das offenporige Holz. Aber nicht alle Türleisten schließen sauber mit dem Armaturenbrett ab, und die Tasten in der Mittelkonsole und am gelegentlich knarzenden Lenkrad sitzen wackelig in ihren Führungen. Dennoch bietet das wohnliche Interieur hohes Wohlfühlpotenzial.
Das darf man bei einem Preis von mehr als 130.000 Euro allerdings auch erwarten. Doch trotz der vielen außergewöhnlichen Qualitäten wird Lucid wie andere neue Premiumhersteller auf dem deutschen Markt die gleiche Eigenschaft wie Papier brauchen: Geduld.
Fazit
Hohe Effizienz, geniale Raumausnutzung dank kompakter Antriebstechnik und eine gelungene Fahrwerksabstimmung: Lucid hat mit dem ersten Wurf ein beachtliches Ergebnis erzielt, muss aber in dieser hohen Preisklasse die verbleibenden Qualitäts- und Assistenzunzulänglichkeiten abstellen.
Lucid Air Touring | |
Grundpreis | 99.000 € |
Außenmaße | 4975 x 1939 x 1410 mm |
Kofferraumvolumen | 627 bis 1835 l |
Höchstgeschwindigkeit | 225 km/h |
0-100 km/h | 3,5 s |
Verbrauch | 0,0 kWh/100 km |
Testverbrauch | 26,3 kWh/100 km |