Durch den Morgennebel, der langsam den Schwarzwald emporsteigt, taucht ein Autotransporter. Er kommt tatsächlich. Dinge, die das Leben bewegen, ereignen sich ja häufig an träge dahinplätschernden Dienstagnachmittagen – wie vor einigen Wochen, als das Mercedes-Benz-Museum telefonisch anfragt, ob es nach 60 Jahren nicht wieder Zeit für einen Einzeltest des Mercedes 300 SL in auto-motor und sport sei. Worauf sich folgender Dialog ergibt:
„Doch, ja, gerne, aber wisst ihr, was wir da so mit Autos anstellen?“ – „Der SL fährt bei der Mille Miglia mit, schlimmer wird es nicht sein.“ – „Ähm, nein, nein. Also ... na ja.“ – „Schlimmer als die Mille?“
Eine ausweichende Antwort später beginnen umfassende Terminabsprachen. Weil das dennoch viel zu einfach geht, fürchten wir, dass der Flügeltürer nie kommt.
Es gibt mondänere Orte als den Flughafen von Lahr – so ziemlich jeden anderen nämlich. Aber dort hält nun der Lastwagen, die Heckrampe klappt herunter, und der Mercedes 300 SL rollt heraus. Steht dann da, als wäre er ein normales Auto. Was er nie war, nie sein wird. Es dürfte schwerfallen, unter den rund 1.400 gebauten Exemplaren eines ohne prominenten Vorbesitzer zu finden. Dieser Mercedes 300 SL kommt aus den USA, muss nun zur Tankstelle, damit wir das 130-Liter-Fass im Heck mit Super Plus füllen können. Das sorgt für eine sachte Hecklastigkeit bei der Balance, wie die Waage zeigt. 1.330 Kilogramm wiegt der Mercedes 300 SL – 81 weniger als ein VW Golf 2.0 TDI.
Wir verkabeln die Mess-Elektronik, setzen den GPS-Empfänger aufs Dach und sortieren uns über die Schweller ins Auto ein. Dann geht es hinaus auf die Landebahn. Damit Öl und Wasser sich aufwärmen können, messen wir erst Tachoabweichung, danach Innengeräusche. Die erlauben es uns, mal wieder die ganze Skala unseres Phon-Messgerätes auszunutzen. Schon im Stand ist der Mercedes 300 SL so laut wie ein heutiger Kompaktwagen bei Tempo 130. Und dann sind es im 300er bereits 85 dB(A) – ein Wert, den er noch locker zu übertreffen vermag.
Mercedes 300SL in 7,2 Sekunden auf 100
Wir fahren ans Ende der Landebahn zum Startpunkt der Beschleunigungsmessung. Es ist ein Stück und ein guter Moment, sich zu erinnern, was für ein unfassbares Auto der Mercedes 300 SL beim Debüt ist. Er entsteht auf der Basis von Rennwagen, die die Mille Miglia, Le Mans und Grand Prix gewinnen. Als der Mercedes 300 SL 1954 in Serie geht, erstarkt der VW-Standard-Käfer gerade von 25 auf 30 PS, erreicht 110 km/h und kostet 3.950 D-Mark. Das entspricht 19.100 Euro in heutiger Kaufkraft und damit dem Preis eines Golf 1.2 TSI mit 110 PS. Im Vergleich zum Käfer ist der Mercedes 300 SL mit 29.000 Mark (das wären heute 140.500 Euro) achtmal so teuer, mit 215 PS über siebenmal so stark und mit 235 km/h (kurze Achse) mehr als doppelt so schnell. Umgerechnet auf den Golf bedeutete es, dass ein Auto 790 PS haben und 417 km/h erreichen müsste, um heute eine ähnliche Dimension zu erlangen wie einst der Flügel. Der Mercedes 300 SL ist der Bugatti Veyron des 20. Jahrhunderts.
Und steht jetzt am Start. 3.000/min, Kupplung kommt. Kurz nur scharren die Hinterräder, dann brüllt der Mercedes 300 SL voran. Zweiter Gang, die synchronisierte Viergangbox schaltet sich schnell und präzise. Der zweite reicht, um Tempo 100 zu schaffen. In 7,2 Sekunden. Sieben Komma zwei – wir reden von einem 60 Jahre alten Auto. Einem, das weiter voranstürmt, nach 34,8 Sekunden 200 km/h erreicht. Wenn nun einer meint, dass heute ein Skoda Superb 2.0 TSI in 7,3 auf 100 kommt, stellen wir fest, dass das Bessere im Früher auch darin bestand, dass nur die schnell fuhren, die schnell fahren konnten.
Denn es ging nicht einfach um das Erreichen, sondern das Beherrschen von Geschwindigkeit. Was sich auch bei den Bremstests zeigt. Der Mercedes 300 SL hat vier Trommelbremsen, 26 Zentimeter groß im Durchmesser, mit zehn Zentimeter breiten Belägen (Scheibenbremsen bekam erst der Roadster). Er ist das erste Auto mit Bremskraftverstärker, verzögert aber eher leger, auch hinsichtlich der Spurtreue. Aus 100 km/h steht der Mercedes 300 SL nach 49 Metern, aus 130 km/h nach 86,2 Metern.
Pylonen aufstellen für Slalom und Spurwechsel. Der Mercedes 300 SL schuftet sich durch. Seine mit 13,9 : 1 sehr direkt übersetzte Lenkung bleibt um die Mittellage teilnahmslos, spricht dann gleichermaßen schwergängig wie giftig an. Dazu schwappen 100 Kilo Sprit im Tank über der Hinterachse. So werden es doch eindrückliche Fahrversuche, bei denen der Mercedes 300 SL stumpf einlenkt und umso nachdrücklicher mit der hinteren Pendelachse – tja, pendelt eben. Um den Mercedes 300 SL schnell zu fahren, muss man entweder sehr talentiert oder sehr mutig sein.
300 SL ist nicht für Fahrer. Für Piloten!
Weil Vorsicht ja der bessere Teil der Tapferkeit ist (nicht von mir, von Shakespeare), brechen wir, nachdem der Innenraum vermaßt ist, vorsichtig zur Rückfahrt durch den Schwarzwald auf. Es gelingt nicht ganz, sich davon frei zu machen, dass der Wert eines Mercedes 300 SL bei 1,5 Millionen Euro liegt und nach den Prognosen rechnerisch pro Minute um 50 Cent steigt. Um 30 Euro pro Stunde, 720 Euro am Tag, 21.600 im Monat und 260.000 im Jahr. Schnell los, bevor es noch teurer wird.
Zündschlüssel drücken und drehen. Der Sechszylinder startet. Sein Fundament stammt aus dem L 1.500, einem Laster aus Untertürkheim. Die Ingenieure entwickelten seinen auf 70 PS ausgelegten Motor 159 mit Direkteinspritzung, mehr Hubraum, schärferer Nockenwelle und vielen weiteren Modifikationen zum M198. Vom herben Leerlauf aus zieht er homogen los, nicht so heftig erst. Bis er ab 3.000 Touren die Drehzahltausender niederreißt und – brüllt bis 6.500. Dann ist der Mercedes 300 SL richtig schnell – auch nach aktuellen Maßstäben. Vor allem aber fordert er alle Konzentration. In jedem einzelnen Moment. Lenken, bremsen, zwischenkuppeln, schalten. Wer glaubt, er könne nebenher telefonieren, scheppert gegen den nächsten Baum (und muss fürchten, dass sich die Ersthelfer zunächst um das Auto kümmern).
Hinter Bad Peterstal steigt die Straße den Wald hinauf, drängt sich an den Fels in engen Kurven und eher kurvigen Geraden. Du vergisst die 1,5 Millionen Euro. Gas. Der Mercedes 300 SL röhrt los, die Sonne stroboskopt über die Schwünge der Motorhaube. Die Kurve früh anbremsen, zurückschalten, am störrischen Lenkrad wuchten, früh aufs Gas, parat sein für das Heckdrängen. Und wieder die nächste Gerade empor bis ganz nach oben.
Später wird der Mercedes 300 SL sicher in die Tiefgarage gelangen, morgen bemerkenswerte Verbräuche erzielen. Jetzt aber steht er in der letzten Abendsonne dort, wo er hingehört, wo er immer sein wird: Auf dem Gipfel.
Fazit
Für den Sportwagen des Jahrhunderts – des vergangenen, aktuellen und folgenden – geben wir noch einen Stern mehr. Schon weil er damals, heute und morgen wie ein Auto vom anderen Stern wirkt – und ist.
Mercedes 300 SL | |
Grundpreis | 14.829 € |
Außenmaße | 4520 x 1790 x 1300 mm |
Kofferraumvolumen | 99 l |
Hubraum / Motor | 2996 cm³ / 6-Zylinder |
Leistung | 158 kW / 215 PS bei 5800 U/min |
Höchstgeschwindigkeit | 260 km/h |
Verbrauch | 16,1 l/100 km |