Was zum …, wie bitte? "Grafische Goodies schon bemerkt? Heute ist ein besonderer Tag!", grüßt der SL per Mitteilung auf dem Tablet-ähnlichen Zentral-Display. Wirkt so, als müsse der Mercedes um Aufmerksamkeit buhlen. Hat er doch gar nicht nötig, gerade jetzt, gerade hier auf der Lieblings-Landstraße. Da gilt die Aufmerksamkeit ohnehin dem Fahren – und der Mercedes-AMG SL fährt. Agiler, wüst zuweilen, nahezu unerschütterlich traktionsstark, schnell.
Also: Aufpassen, denn die Grenze zwischen schnell und zu schnell im Sinne der Legalität stellt aufgrund der immens hohen Fahrsicherheit und des quirligen Handlings keine besonders gut gesicherte dar, bestenfalls wie jene zwischen Deutschland und Österreich. Dass beim Überqueren derselben das Infotainment eine neue Zeitzone ankündigt, verleiht der Reise einen kosmopolitischen Charakter, doch das nur am Rande.
Zum Glück noch einmal V8
Tief in das Cabrio integriert, perfekt positioniert, gestützt von außergewöhnlich bequemen, zugleich zupackenden Sitzen, hechtest du von Kurve zu Kurve, freust dich auf jeden Einlenkpunkt. Warum? Weil dieser SL mit geradezu kindlicher Unbekümmertheit abbiegt, dabei mit der klaren Nüchternheit eines Finanzbeamten über die Lenkung kommuniziert, dich so ermutigt, einfach noch ein bisschen früher aufs Gaspedal zu tapsen. Vielleicht sogar noch ein bisschen früher, denn das intern M177 genannte Triebwerk kommt zuweilen nicht so recht aus dem Quark.
Tatsächlich lässt die Angabe des maximalen Drehmoments von 800 Nm bei 2500/min und fehlende E-Unterstützung ahnen, dass das Biturbo-Aggregat nicht derart frenetisch losstürmt, als gelte es, beim Konzert im Stadion einen Platz direkt vor der Bühne zu ergattern. Zumindest im Komfort-Modus, in dem das Automatikgetriebe schnellstmöglich den höchsten der neun Gänge aufsucht, kann das irritieren, da der Antrieb sehr überrascht ob der Leistungsabfrage wirkt und sich erst mal sortieren muss. Warum der SL dennoch auf der Teststrecke liefert? Beispielsweise gemäß der Werksangabe in 3,6 Sekunden von 0 auf 100 km/h tobt, in 12 Sekunden die 200-km/h-Marke reißt? Na, die Technik hilft. Stichwort: Race Start. Mit entsprechend eingeregelter Anfahrdrehzahl explodiert der Vierliter-Motor unmittelbar, lässt in seiner Vehemenz kaum nach, spätestens aber bei 315 km/h.
Starke Bremsen
Dabei hat sich der Heckflügel aus der Minus-elf- (Nullstellung) über die Plus-sechs- und Plus-elf- in die Plus-17-Grad-Stellung hochgefahren, plus 22 Grad kommt erst auf der Rennstrecke zum Einsatz – für maximale Querbeschleunigung. Umgekehrt fehlt es ebenso wenig an Vehemenz beim Bremsen, die Anlage mit optionalen Carbon-Keramik-Bremsscheiben liefert zuverlässig Werte um 11,5 m/s², lässt sich jederzeit exakt dosieren, vermittelt ein klares Pedalgefühl – keine Selbstverständlichkeit bei jüngeren Mercedes-Modellen.
Es braucht also ein wenig Drehzahl, um den SL direkt an die rechte Fußsohle des Fahrers zu kleben. Bereits der Wechsel in den Sport-Modus (darüber: Sport Plus und Race) hilft da schon ein wenig, ohne dass unangemessene Hektik oder Härte durch den Sportwagen schwappt. Eine gewisse Grundhärte leistet er sich ohnehin, gilt es doch, nicht nur den Vorgänger (und ein bisschen das S-Klasse Cabrio), sondern obendrein den AMG GT zu beerben. Also nur marginaler Federungskomfort? Nein, der Zwei-plus-zwei-Sitzer kommt mit Unebenheiten sehr ordentlich klar, rollt nur etwas arg steif ab und federt bei kurzen Wellen etwas zu träge an – was sich bei warmen Reifen – also höherem Druck – noch etwas verstärkt.
Wie lässt sich dann diese stürmische Agilität realisieren? Nicht nur subjektiv zerlegt der Neue jede Landstraße in millimetergroße Teilstücke, die sich dann über Lenkung und Traktion praktisch nach Belieben fix und präzise wieder neu zusammensetzen lässt. In den Fahrdynamik-Messungen, also im 18-Meter-Slalom und beim doppelten Spurwechsel, kommen Tempi zustande, die den Pylonen die Blässe ins Plastik treibt und auf dem hohen Niveau des 200 Kilogramm leichteren, 16 Zentimeter kürzeren und zwei Zentimeter breiteren GT Roadster liegen.
Okay, dafür mussten die Entwickler die gesamte Technik-Vorratskammer leer- und alles in den SL einräumen: vollvariabler Allradantrieb, zusätzlich gelenkte Hinterräder (2,5 Grad gegensinnig, 0,7 Grad gleichsinnig), dazu die Wankstabilisierung Active Ride Control. Die verschaltet die adaptiven Stoßdämpfer sowohl in Druck- als auch Zugstufe über zwei hydraulische Kreisläufe miteinander.
Der Komfort kommt nicht zu kurz
Tja, und dann will die Komfort- und Unterhaltungsabteilung auch noch mit, im Fall des Testwagens sogar ein aufwendiges Audiosystem (bei dem die Höhen erstaunlich früh ins Zittrige kippen), das Zentraldisplay, dessen Neigung sich entsprechend des Sonnenstands einstellen lässt, sowie eben jene fantastischen heiz- und kühlbaren Massagesitze.
Dann wären da noch die hinteren, nun, Sitzgelegenheiten, deren Lehne derart steil steht, dass nur kleinere Kinder auf Kurzstrecken dort untergebracht werden dürfen. Die Vordersitze lassen sich übrigens derart weit zurückschieben, dass es die Sitzfläche der hinteren zusammendrückt – was eigentlich alles über deren Bedeutung aussagt. Ein bisschen zusätzlicher Gepäckraum schadet eh nicht, schließlich gehört es zum Wesen eines SL, diesseits aller Dynamik-Talente auf der großen Reise zu brillieren.
Oder eben auf einer repräsentativen Ausfahrt auf den Küstenstraßen Südkaliforniens vielleicht, so wie einst Jennifer Heart alias Stefanie Powers im SL der Baureihe 107 in der ollen TV-Serie "Hart aber herzlich".
Traditionelles Stoffverdeck, aber Windgeräusche
Mit geöffnetem Verdeck bereitet das auch ohne (in Handarbeit) montiertem Windschott große Freude, eben durch die tiefe Integration ins Auto. Unter der Sonne Kaliforniens mag sich dann der eine oder andere vielleicht eine intensivere Sitzkühlung wünschen. Was sich allerdings wirklich jeder Käufer eines mit ein paar Extras leicht 200 000 Euro teuren Sportwagens wünscht: eine sorgsamere Auswahl der verwendeten Materialien sowie eine peniblere Verarbei- tung. So besteht zwar die Verkleidung des Windschutzscheiben-Rahmens aus einem Alcantara-ähnlichen Material, hängt auf der Fahrerseite jedoch leicht durch. Aus dem Fond kriechen dezente Knarz-Geräusche nach vorn. Das um den Innenspiegel angeordnete Kamera-Arsenal steckt in arg kostenbewusst eingekauftem Kunststoff, dem Fuß des Innenspiegels fehlt eine Verkleidung (ebenso bei anderen Mercedes-Modellen).
Noch nicht genug? Na, dann: Deckel drauf. Das Verdeck lässt sich per virtuellem Schieberegler auf dem Monitor bedienen, was durchaus dazu führen kann, dass du mit halb geöffnetem Dach umherfährst, weil der Zeigefinger um einen halben Millimeter verrutscht ist. Und: Der Monitor kann richtig heiß werden. Gut, dass es dafür alternativ eine Taste in der Leiste unterhalb des Monitors gibt. Der Hauptkritikpunkt am Dach: Windgeräusche bereits ab rund 100 km/h im oberen Bereich der Fahrer-Seitenscheiben. Bevor Sie fragen: Die Scheibe war vollständig geschlossen.
Wo wir gerade hier sind: Die Materialien der Türtafel wirken prinzipiell sehr hochwertig. Nur der Kunststoff des Zuziehgriffs, der sich ebenfalls in der Mittelkonsole findet, scheint sich praktisch von selbst mit Fingerabdrücken zu überziehen – beinahe schlimmer als der berührungssensitive Monitor mit der zwar nicht hundertprozentig intuitiven, jedoch leicht erlernbaren Menüstruktur. In dem stecken nahezu alle Funktionen des SL, sei es Klimatisierung, das Assistenzarsenal oder die unterschiedlichen Fahrmodi, die das Ansprechverhalten des Motors, die Getriebekennlinie, die Dämpferhärte sowie das Fahrdynamik-Regelsystem beeinflussen. Dessen Arbeitsweise lässt sich unter normalen Verkehrsbedingungen nicht ermitteln, zu hoch liegt der mechanische Grip.
Was will der SL sein?
Selbst auf der Teststrecke braucht es rohe Gewalt am Lenkrad oder absurd hohes Tempo, unter Umständen sogar beides, um die sehr präzisen, pointierten Regeleingriffe zu erleben. Weil wir gerade schon Unfug treiben, ließe sich doch jetzt dieser aus dem E 63 bekannte Drift-Modus … – nein. Gibt’s nicht im SL, es gehöre sich dort nicht, lässt Mercedes-AMG verlauten. Warum sich dann allerdings in einem Untermenü ein Rennstrecken-Modus findet, der die kamerabasierten Assistenzsysteme pausieren lässt? Man weiß es nicht. Jedenfalls poppt ebenso wie die Grafik-Goodie-Meldung immer mal wieder der Verdacht auf, dass der SL sich nicht recht entscheiden mag, welche Zielgruppe er nun wirklich zufriedenstellen soll. Stürmischer Sportwagen? Komfortables Hightech-Cabrio? Einfach nur von beidem ein bisschen?
Tief Luft holen, die strömt ohnehin gerade wunderbar wohldosiert durchs Cockpit, das V8-Triebwerk produziert betont unbeteiligt Kraft, schafft einen herrlichen, sehr dichten und dickwolkigen Klang, der im verschärften Modus der Abgasanlage noch ein bisschen intensiver basst. Sehr authentisch, sehr präsent, sehr hubkolbenmotorig – und weniger rotzig, als man das bislang von AMG kannte. Ebenfalls bekannt: leichtes Antriebsstrang-Ruckeln bei langsamerer Fahrt, beispielsweise im Stadtverkehr, jedoch eher von den Modellen mit Doppelkupplungsgetriebe. Dieses Phänomen tritt nun beim Testwagen mit Neungang-Automatikgetriebe auf, dessen Drehmomentwandler markentypisch ein Mehrscheiben-Kupplungspaket ersetzt.
Immerhin: Es trägt mit dazu bei, dass der SL bei zurückhaltender Fahrweise mit weniger als 10,0 l/100 km auskommt, und selbst beim Testverbrauch von 13,5 l/100 km muss niemand die matschigen Tomaten rausholen und zum Wurf ansetzen – gemessen an Größe und Masse des Mercedes ein guter Wert. Nur: Wohin jetzt? Bummeln ist nun auch nicht so seins, mal ruckt er, mal zaudert er, die Anfahrschwäche lässt sich nicht wegreden, nur wegdrehen. Fein, möge die Flucht in die Kurven helfen, im Modus Sport oder individuell parametriert mit komfortablen Dämpfern und Sport-Plus-Antrieb, spaßeshalber mit manueller Gangwahl (geht auch zwischendurch mal, in jedem Fall sehr reaktionsschnell auf Paddelbefehle) durchs Getriebe wuseln, so für Drehzahl sorgen, den dann sehr wachen Biturbomotor genießen, dazu den Biss der Vorderachse beim Einlenken, die Stabilität des Hecks, das bergseeklare Lenkgefühl. Lenkwinkelaufbau, Handmoment, Rückmeldung – alles auf den Punkt. Da hätte es den BMW-M-dicken Lenkradkranz nun wirklich nicht gebraucht.
Was es dagegen dringend braucht: einen Schwingschleifer, Schleifpapier mit mindestens 100er-Körnung, um jene Unzulänglichkeiten zu beseitigen, die dem eigenen Anspruch von Mercedes-AMG im Weg herumstehen. Dann stört auch unklare Positionierung dieses SL-Konzeptes nicht.
Eine Anbiederung mit grafischen Goodies jedenfalls ist schon jetzt völlig überflüssig.
Fazit
Der SL will mehr Sportwagen als je zuvor sein? Haken dran. Agiler fuhr bislang keiner, nicht ansatzweise. Und: Er reißt seinen Fahrer mit. Andererseits löscht ihn der Mercedes mit einigen Detailmängeln ab.
Mercedes AMG SL 63 4Matic+ Mercedes-AMG | |
Grundpreis | 194.654 € |
Außenmaße | 4705 x 1915 x 1354 mm |
Kofferraumvolumen | 213 l |
Hubraum / Motor | 3982 cm³ / 8-Zylinder |
Höchstgeschwindigkeit | 315 km/h |
0-100 km/h | 3,6 s |
Testverbrauch | 13,5 l/100 km |