Autofahren im Winter: 10 Thesen, warum Chaos ausbricht

Autofahren im Winter
10 Thesen, warum immer Chaos ausbricht

Unfälle, Staus, sogar Todesopfer: Kaum schneit es, geht nichts mehr auf deutschen Straßen. Können die Leute nicht mehr Autofahren? Sind sie zu vorsichtig? Fehlt es an Salz und Räumfahrzeugen? Wir haben Experten gefragt, was falsch läuft.

Kaum schneit es in Deutschland, geht nichts mehr auf den Straßen. Das zumindest ist der Eindruck der Autofahrer. Ein aktuelles Beispiel: Als am Abend des 10. Januar mehrere Lastwagen auf der A8 zwischen Ulm und Aichen liegenblieben, staute sich der Verkehr auf ungefähr 35 Kilometern. Es dauerte neun Stunden, bis der Verkehr wieder floss. Viele Fahrer mussten also die Nacht auf der Autobahn verbringen. Das tragische Resultat des Staus: Eine 54-Jährige starb währenddessen ohne Fremdverschulden in ihrem Fahrzeug.

Fit durch den Winter

Die Expertenmeinungen zum Winter-Chaos

Wie kann es also wegen Wintereinbruchs auf den Straßen zu einem Todesopfer kommen? Warum bricht immer wieder das Chaos aus? Die Online-Redaktion von auto motor und sport hat dazu acht Thesen aufgestellt und von folgenden Experten einschätzen lassen:

Dr. Karl-Friedrich Voss, Verkehrspsychologe und Vorsitzender des Bundesverbandes Niedergelassener Verkehrspsychologen

Melanie Mikulla und Johannes Boos, Unternehmenssprecher des ADAC

Thiemo Fleck, Redakteur und Reifenexperte bei "auto motor und sport"

Andreas Friedrich, Pressesprecher und Experte für Winterwetter beim Deutschen Wetterdienst

These: Die Leute können nicht mehr Auto fahren. Welche Gründe gibt es?

Dr. Karl-Friedrich Voss: Man kann das nicht verallgemeinern. Das Verhalten der Autofahrer ist von deren Voreinstellungen zu den Jahreszeiten abhängig. Wenn man sich daran gewöhnt hat, dass es keine richtigen Winter mehr gibt, und dann kommt aber doch der Schnee, kommt man in eine ungünstige Situation. Und die trifft einen dann umso härter.

These: Autofahrer sind verunsichert, zu zaghaft, haben Angst, aber fahren trotzdem.

Dr. Karl-Friedrich Voss: Da scheint etwas dran zu sein. Derartige Situationen im Straßenverkehr sollte man als Herausforderung sehen, die es zu meistern gilt. Aber so denken nicht mehr viele Autofahrer. Das hat auch mit einem Missverhältnis zwischen der Fahrausbildung und dem realen Straßenverkehr zu tun. Zum Beispiel wird in der Prüfung fast ausschließlich in der Stadt gefahren und tagsüber. Im realen Verkehr muss ich aber auch über Land, auf der Autobahn und nachts fahren. Dazu bei schlechtem Wetter etc. Es wird nicht das geprüft, was einen Autofahrer dann erwartet. Generell sage ich: Ein Format wie "Der 7. Sinn" muss wieder ins Fernsehen. Denn da wird auf Dinge hingewiesen, die vielleicht nicht ständig vorkommen, für Autofahrer aber dennoch von Bedeutung sind. Und das könnte wertvoll sein.

These: Unsere Autos haben viel Elektronik, nehmen uns viel ab. Wir verlassen uns zu sehr auf das Können der Technik.

Dr. Karl-Friedrich Voss: Das ist ein bekanntes Phänomen, das wir in der Psychologie Risiko-Homöostase nennen. Wir haben es bereits beobachtet, als ABS eingeführt wurde, und kann jetzt sinngemäß bei modernen Assistenzsystemen angewendet werden. Es ändert sich tatsächlich das Fahrverhalten. Die Vorteile der Technik führen dazu, dass man sich am Steuer mehr zumutet oder nachlässig wird. Dabei sollte man sich trotz der Technik so verhalten, als hätte man keine elektronischen Assistenten an Bord.

These: Immer längere Pendelstrecken, immer höheres Verkehrsaufkommen: Wenn ein kleines Zahnrad klemmt, kommt das ganze System zu Erliegen.

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Dr. Karl-Friedrich Voss: Das ist leider so und auch der Grund, warum ich mit der Deutschen Bahn fahre. Trotz Verspätungen etc. ist das Fahren bei winterlichen Verhältnissen darin angenehmer und oft auch schneller als mit dem Auto. Das ist nur mit einem intelligenten Verkehrsmanagement in den Griff zu bekommen. Aber das muss an anderer Stelle gelöst werden.

These: Die Kommunen sind klamm und sparen am Streusalz, Winterdienst, Personal etc.

Johannes Boos: Innerorts besteht eine Räum- und Streupflicht der Gemeinden nur für gefährliche und verkehrswichtige Stellen auf Fahrbahnen, für Zebrastreifen und für Gehwege. In der Praxis ergibt sich daraus, dass innerörtliche Straßen von nachrangiger Bedeutung erst nach einiger Zeit geräumt oder gestreut werden. In der Regel leisten die Kommunen – wo organisatorisch machbar – aber deutlich mehr, als rechtlich vorgegeben ist.

These: Gleiches gilt für Privatleute: Stichwort: Ganzjahresreifen. Oder in Norddeutschland lassen Autofahrer ihre Sommerreifen drauf.

Melanie Mikulla: Es gibt eine situative Winterreifenpflicht, an die sich alle Autofahrer halten sollten. Natürlich kann es passieren, dass der Wechsel vergessen wird, zu spät erfolgt oder bewusst vermieden wird. Das geht zur Lasten der Verkehrssicherheit. Jeder Autofahrer, der bei diesem Wetter keine Winterreifen auf dem Auto hat, sollte das Auto stehen lassen! In so einer Situation trotzdem zu fahren ist gefährlich und kann teuer werden.

These: Quer stehende Lkw blockieren zu oft die Autobahn.

Thiemo Fleck: Vordergründig ist die Antwort einfach: Weil zu viele Lkw-Fahrer zu lange versuchen, weiterzufahren, obwohl die Traktion nicht reicht. Die Seitenführung der durchdrehenden Antriebsräder reißt ab, der Lkw wandert quer zur Fahrtrichtung. Den Lkw-Fahrern ist daraus aber allenfalls der Vorwurf zu machen, dass sie zu lange auf dem Gas bleiben. Ihre einzige Alternative: Einfach stehen bleiben. Dann blockieren sie zwar ihre Fahrspur, aber eben nicht die ganze Autobahn. Wer den Druck in der Logistikbranche kennt, weiß aber: Stehen bleiben ist das, was Trucker am wenigsten brauchen können.

These: Lastwagen sind oft nicht richtig bereift.

Thiemo Fleck: Gibt es für Lkw keine Winterreifenpflicht? Doch, die gibt es und ab Juli 2020 bezieht sie sich sogar auf die Lenk- und nicht nur auf die Antriebsachse. Ab 2024 müssen Lkw-Winterreifen außerdem das Schneeflocken-Symbol haben – bis dahin genügen M+S-Reifen. Aber Lkw-Winterreifen unterscheiden sich grundlegend von Winterreifen für Pkw. Sie sind haltbarer als die Pkw-Pendants, aber haften schlechter. Beladene Lkw haben in der Regel trotzdem kein Traktionsproblem: Ihr hohes Gewicht drückt die Reifen derart stark auf die Fahrbahn, dass die Gummimischung zweitrangig ist. Unbeladene Lkw leiden hingegen unter der dann ungünstigen Gewichtsverteilung: Die Antriebsachse ist hinten, wo ohne Ladung nur wenig Last sitzt. Der wenigstens etwas schwerere Motor ist vorn, wo in der Regel keine Antriebskraft hingeleitet wird. Wegen der Gewichtsproblematik helfen auch Ketten wenig – die würden im Zweifel nur die Straße ruinieren.

These: Die Leute bilden keine Rettungsgasse. Deshalb: querstehender Lkw = Chaos, weil die Helfer nicht hinkommen.

Dr. Karl-Friedrich Voss: Hier mache ich andere Erfahrungen. Meiner Beobachtung nach zeigen die meisten Autofahrer viel Verständnis und verhalten sich vorbildlich. Natürlich gibt es Einzelfälle, die auch sehr zu bedauern sind. Aber die Polizei dramatisiert dann auch oft und veröffentlicht vor allem die schlimmen Ereignisse. Das spiegelt aber die Realität auf den Autobahnen nicht wider.

These: Der Klimawandel begünstigt stürmische/schnell wechselnde Wetterzustände. Kommt der Schnee schneller oder heftiger als früher?

Andreas Friedrich: Das aktuelle Wetter steht nicht in direktem Zusammenhang mit dem Klimawandel. Über einen langen Zeitraum betrachtet gibt es kaum Unterschiede. Zwar gibt es im Vergleich zu einem Zeitpunkt vor 30 Jahren um etwa zehn Prozent höhere Niederschlagssummen, auch die Schneefallgrenze ist etwas angestiegen. Aber die aktuelle Wetterlage ist nichts Außergewöhnliches.