Lungenarzt und Epidemiologe über die Folgen von Feinstaub

Interview mit Lungenarzt und Epidemiologe
Wie schädlich ist der Diesel wirklich?

Interview

Sind die gesundheitlichen Folgen von Feinstaub und Stickoxiden tatsächlich ausreichend erforscht? Lungenärzte und Epidemiologen stritten wochenlang um die Daseinsberechtigung aktueller Grenzwerte, dann wurde auch noch ein Rechenfehler publik. Wir haben mit Vertretern beider Lager gesprochen und sie mit der Kritik der Gegenseite konfrontiert. Die Antworten wurden von uns zusammengefasst, die Interviews fanden getrennt statt.

Prof. Dr. Holger Schulz, Prof. Dr. Martin Hetzel
Foto: Hans-Dieter Seufert; Helmholtz Zentrum München

Zur Person: Prof. Dr. Holger Schulz (Foto l.) Stellvertretender Direktor am Institut für Epidemiologie des Helmholtz Zentrums München, Leiter der Abteilung Lungenepidemiologie

Zur Person: Prof. Dr. Martin Hetzel (Foto r.) Lungenfacharzt und Kardiologe, Geschäftsführer des Verbands Pneumologischer Kliniken, Vorsitzender der Süddeutschen Gesellschaft für Pneumologie

Das Interview ist Teil unserer neuen Serie „Die Wahrheit über ...“. In fünf Folgen beantwortet auto motor und sport die wichtigsten Fragen zu Diesel-Zukunft, Elektroautos und zum richtigen Autokauf. Folge 1: Die Wahrheit über die Zukunft des Diesels startet in Ausgabe 6/2019, die Sie hier kaufen können.

Herr Schulz, ist die wissenschaftliche Grundlage unserer Luftgrenzwerte wirklich so dürftig, wie einige Lungenärzte behaupten?

Schulz: Nein, das kann man so sicherlich nicht sagen. Sie beruhen auf sehr vielen epidemiologischen Studien, die in Europa, den USA und Asien durchgeführt wurden. Hinzu kommen Untersuchungen an Zellkulturen, um Mechanismen zu erkennen, wie Schadstoffe wirken. Als drittes Standbein hat man noch Expositionsstudien, auch mit Freiwilligen, wo man Menschen für eine gewisse Zeit bestimmten Stoffen aussetzt und dann untersucht, wie sich beispielsweise die Lungenfunktion verändert, ob Entzündungsmarker in Lunge oder Blut festgestellt werden, oder ob es Veränderungen am Herz- und Kreislaufsystem gibt.

Doch gerade die epidemiologischen Studien werden von einer Gruppe Lungenärzte um Dieter Köhler kritisiert. Martin Hetzel ist einer der Mitautoren von deren Thesenpapier.

Herr Hetzel, was kritisieren Sie an epidemiologischen Studien?

Hetzel: In den Kohortenuntersuchungen wurde der Lebenszeitverlust durch Atemwegs- und Herzerkrankungen von Menschen, die im ländlichen Raum leben, und von Menschen, die verkehrsnah wohnen, unter Annahme einer statistischen Lebenserwartung errechnet. Zusätzlich wurden aus den Daten der Messstationen bevölkerungsbezogene Schadstoffbelastungen kalkuliert. Dann wurde ein Zusammenhang von errechnetem regionsbezogenen Lebenszeitverlust zur korrespondierenden Schadstoffbelastung hergestellt. Dies nennt man Korrelation. Hier lassen sich geringe Unterschiede in der Lebenszeit von Land- und Stadtbevölkerung erkennen. Die mittleren Unterschiede in der Lebenszeit betragen weniger als 10 Stunden. Aus dieser Korrelation wurde unzulässigerweise dem NO2 Ursächlichkeit zuge- schrieben. Im letzten Schritt wird dann aus dem mittleren Lebenszeitverlust mit unzulässigen mathematischen Methoden auf 6000 Todesfälle geschlossen. Es gibt keine Todes- fälle durch Umwelt-NO2-Belastungen, die ursächlich auf NO2 zurückzuführen sind. Daher kommt die Aussage: „Es gibt keine Stickoxid-Toten.“

Sind Ihre Studien tatsächlich so plump aufgebaut?

Schulz: Nein, da sind wir deutlich weiter. Wir haben Methoden, bei denen für jeden einzelnen Probanden am Wohnort die Schadstoffbelastung ermittelt wird. Das ergibt dann ganz automatisch keinen Stadt-Land-Vergleich, weil sich auch in der Stadt die Schadstoffwerte sehr stark unterscheiden, je nachdem, ob ich an einer viel befahrenen Straße wohne oder nicht. Der zweite Aspekt ist die Abschätzung des Gesundheitsrisikos. Also: Wie viel Lebenszeit verliere ich zum Beispiel, wenn ich Schadstoffen ausgesetzt bin? Die Modelle sind nicht geeignet, zu bestimmen, was das einzelne Individuum an Lebenszeit verliert. Es geht um eine Abschätzung in der Bevölkerung, um beispielsweise der Politik etwas an die Hand zu geben, verschiedene Risikofaktoren zu vergleichen. Ein Raucher verliert beispielsweise im Schnitt 8 bis 10 Jahre Lebenszeit.

Herr Hetzel, Sie kritisieren auch mangelnde Berücksichtigung von Störfaktoren. Was ist damit gemeint?

Hetzel: Risiken für vorzeitigen Tod, die dem Lebensstil geschuldet sind – zum Beispiel Tabakkonsum oder Übergewicht – wirken zigfach stärker auf die Lebenszeit. Diese Störfaktoren wurden aber nicht gemessen, sondern geschätzt. Geringste Veränderungen bei den geschätzten Störgrößen, die man in das mathematische Modell einbringt, führen dann zu anderen Ergebnissen. Wenn die Störfaktoren viel stärker wirken als die Umweltschadstoffe, dann ist eine angemessene Berücksichtigung durch Schätzungen im mathematischen Modell nicht möglich.

Ist an dieser Kritik etwas dran?

Schulz: Das kann man so nicht sagen. Es wird dafür in den Modellen adjustiert, und in solchen Studien schaut man sich auch Teilgruppen an, also nur die Raucher oder nur die Nichtraucher, Menschen mit oder ohne Lungenkrankheiten und so weiter. Das wird üblicherweise nicht mitveröffentlicht, spielt bei der Auswertung jedoch eine wichtige Rolle. Wenn ich sehe, dass auch diese Betrachtung zu einem stabilen Ergebnis führt, kann ich von einer sicheren Aussage ausgehen.

Beim Vergleich mit dem Rauchen wurde in Ihrem Papier ein Rechenfehler entdeckt. Sind damit sämtliche Aussagen hinfällig?

Hetzel: Nein, ganz im Gegenteil. Die Art und Weise, wie nun versucht wird, die vorgebrachten Argumente zu erwidern, ist ein klarer Beleg für deren Stärke. Worum geht es? Das Umweltbundesamt hat vor wenigen Jahren veröffentlicht, Feinstaub in Umweltkonzentrationen führe in Deutschland jährlich zu 47.000 Todesfällen. Wir haben die Plausibilität dieser Feststellung damit angegriffen, dass wir errechnet haben, in welcher Zeit ein Raucher gleich viel Feinstaub inhaliert wie eine Person, die 80 Jahre lang ohne Unterbrechung die Grenzwertkonzentration von 50 µg/m³ Feinstaub einatmet. Wir haben diese Zeit mit „kleiner als 2 Monate“ angegeben. Der Grundannahme lag eine höhere Kondensatmenge pro Zigarette zugrunde, als nach einer EU-Norm zulässig ist. Nun haben wir die Rechnung für die gesetzlich zulässige Kondensatmenge nachgereicht: Die Zeitdauer beträgt 2,1 Monate. Damit verharmlosen wir auch nicht die schädliche Wirkung des Tabakkonsums. Wir nehmen das täglich durchgeführte In-vivo-Experiment Tabakkonsum als einen Plausibilitätstest zur Frage der tödlichen Wirkung von Feinstaub in Umweltkonzentrationen. Ob nun kleiner als 2 Monate oder 2,1 Monate: Dass Raucher im Regelfall nicht nach 2,1 Monaten tot umfallen, ist eines von vielen Argumenten gegen die einseitigen Interpretationen von epidemiologischen Untersuchungen zur Schadwirkung des Feinstaubs.

Sie als Lungenarzt raten angesichts der gemessenen Schadstoffwerte zur Gelassenheit. Braucht man dann überhaupt noch Grenzwerte?

Hetzel: Von den derzeit an den Messstellen gemessenen NOX-Konzentrationen geht keine Gesundheitsgefahr aus. Das belegt die seriöse Bewertung wissenschaftlicher Untersuchungen, und dafür spricht unsere Alltagserfahrung. Wir behandeln viele Menschen mit Bronchial-Asthma, die in Innenräumen regelmäßig viel höheren NO2-Belastungen, als sie an den Messstellen gemessen werden, ausgesetzt sind. Sie berichten aber über keine innenraumbezogene Symptomatik. Wenn zu Hause mit Gasherden gekocht wird, dann kommt es schnell zu NO2-Konzentrationen von über 1.000 µg/m³. Wenn im Winter Wohnungen mit Gasthermen geheizt werden, sind Wohnungs-NO2-Konzentrationen von über 100 µg/m³ nicht ungewöhnlich. Schon mit ein paar brennenden Kerzen erreichen Sie diese Innenraumkonzentrationen. Die Lungenärzte hätten es mitbekommen, wenn diese Situationen regelhaft Asthma-Symptome auslösten.

Als Argument gegen die niedrigen Grenzwerte werden oft die Auflagen aus anderen Lebensbereichen herangezogen.

Wenn NOX doch so gefährlich ist, wie kann es dann sein, dass an Straßen der Grenzwert 40 Mikrogramm gilt, ich aber an vielen Arbeitsplätzen 950 Mikrogramm aushalten muss und zu Hause eventuell auch noch eine Gastherme an der Wand hängt?

Schulz: Was man weiß, ist, dass Kinder, die in Wohnungen mit Gasthermen leben, ein etwas geringeres Lungenvolumen entwickeln und unter erhöhtem Asthma-Risiko leiden. Beim Arbeitsplatz vergleichen wir jedoch verschiedene Dinge: 40 Mikrogramm sind ein 24-Stunden- und Jahresmittel-Wert und 950 Mikrogramm ein Acht-Stunden-Wert. Am Arbeitsplatz haben wir gesunde Erwachsene, in der Umgebungsluft jedoch auch Kinder und Kranke. Bei anderen Schadstoffen wie Asbest erlauben Mediziner für Arbeitsplätze ebenfalls höhere Werte. Trotzdem spräche aus unserer Sicht nichts gegen niedrigere Grenzwerte am Arbeitsplatz.

Aber leben Anwohner an einer viel befahrenen Straße wirklich kürzer?

Schulz: Dazu gibt es eine gute Studie aus Europa, bei der man 25 Städte ausgewertet hat. Wenn man die Feinstaubempfehlung der WHO von 10 Mikrogramm zugrunde legt, dann würden die Menschen ein halbes bis ein Jahr länger leben.

Und bei Stickoxiden?

Schulz: Da gibt es die Studie vom Umweltbundesamt, an der auch mein Institut mitgewirkt hat, die die Krankheitslast der Langzeitbelastung für Deutschland auf 6.000 vorzeitige Todesfälle aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen abgeschätzt hat. Aber auch hier gilt wieder: Dies ist eine „Maßzahl“, das sind keine Todesfälle wie bei einem Autounfall. Da geht es nur darum, zu zeigen, dass es messbare Auswirkungen gibt, und den Effekt gegebenenfalls mit anderen Risikofaktoren zu vergleichen.

Herr Hetzel, Ihre Erklärung wurde nur von rund 110 Lungenärzten unterschrieben. Der Pneumologenverband hat jedoch 3.800 Mitglieder. Warum macht die Mehrheit nicht mit?

Hetzel: Es hat keine Abstimmung stattgefunden. Nachdem unsere Stellungnahme den Mitgliedern der DGP verschickt wurde, haben innerhalb weniger Wochen über 100 Lungenärzte ihre Bereitschaft erklärt, die vorgebrachten Argumente öffentlich zu vertreten. Das heißt nicht, dass die anderen Vereinsmitglieder anderer Meinung sind. Zudem sind die 3.800 Mitglieder nicht alle Lungenärzte. Über wissenschaftliche Inhalte sollte man primär auch nicht abstimmen. Der Bundesverband der Pneumologen, in dem viele niedergelassene Lungenärzte organisiert sind, hat wenige Tage nach der Publikation unserer Argumente ein solches Stimmungsbild auf dem Wege einer Blitzumfrage eingefangen: Die Mehrheit hat sich dabei gegen die Beibehaltung geltender gesetzlicher Schadstoffgrenzwerte ausgesprochen.

Wir lesen immer von 70.000 Studien zu Luftschadstoffen. Kann es sein, dass es wirklich so viele gibt?

Schulz: Ja, das kann sein. Luftschadstoffe werden seit Jahrzehnten untersucht. Man könnte jetzt fragen: Wa-rum forscht man dann noch, wenn man das Ergebnis doch schon kennt? Allerdings ändern sich die Schadstoffe ständig. Zum Beispiel Schwefeldioxid, das war in den 80er-Jahren im Zusammenhang mit dem Waldsterben in den Medien, es schädigt jedoch auch die Atemwege. Heute ist das kein Thema mehr, genauso wie der grobe Ruß bei Dieseln, der mittlerweile herausgefiltert wird. Heute haben wir jedoch Probleme mit ultrafeinen Partikeln, die teils stark toxisch wirken. Diese werden nicht wie NO2 oder Feinstaub gemessen, aber wir können NO2 als Indikator benutzen, da beide hauptsächlich vom Verkehr stammen. Kurz gesagt: Wo NO2 ist, da sind auch ultrafeine Partikel, die Werte steigen parallel. Der Partikelfilter hat, was die Partikelmasse betrifft, schon viel bewirkt, ganz kleine Teilchen filtert er jedoch nicht ausreichend heraus.

Dann ist es doch kontraproduktiv, dass moderne Diesel mit ihren SCR-Systemen das NO2 reduzieren. Dadurch fehlt Ihnen ja der Indikator.

Schulz: Genau. Allerdings hat auch NO2 seine Gesundheitswirkung und muss reduziert werden. Wir müssten die Messung der ultrafeinen Teilchen, zumindest an verschiedenen Orten in Deutschland, etablieren. Wir haben die Motoren in die Richtung, immer weniger Abgasmasse zu erzielen, optimiert, erhalten jedoch auf der anderen Seite immer mehr ultrafeine Teilchen, die quasi keine Masse haben. Hier wäre es sinnvoll, mit den Ingenieuren der Autoindustrie zu sprechen, um die Technik so auszulegen, dass insgesamt möglichst wenig gesundheitsschädliche Abgase entweichen.